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Ahnung. Carlos Schwabe: Der Tod und der Totengräber, 1895

© Musée d'Orsay, Paris

Zeichnung: Irdische Paradiese

Zeichnungen des 19. Jahrhunderts, ans Licht geholt: „Das Archiv der Träume“ in der Wiener Albertina.

Carte Blanche hatte Werner Spies, der seit einem halben Jahrhundert in Frankreich lebende deutsche Kunsthistoriker bekommen, freie Hand, um unter den 90 000 Zeichnungen des Pariser Musée d’Orsay auszuwählen und eine Ausstellung nach eigenem Gusto zusammenzustellen. Der 77-jährige Spies, einige Jahre lang als Direktor des Nationalmuseums für moderne Kunst im Centre Pompidou, arbeitete sich durch die Grafikschränke, um am Ende rund 130 Arbeiten des 19. Jahrhunderts auszuwählen und diesen so selten gezeigten und wenn, dann in den Seitenkabinetten des überlaufenen Orsay-Museums übersehenen Schatz zu Bewusstsein zu bringen. In Paris war die Ausstellung im vergangenen Jahr unter dem Titel „Archiv der Träume“ ein großer Erfolg, an den nun die Wiener Albertina anzuknüpfen hofft.

Ein heterogenes Jahrhundert

Spies, Freund von Picasso und Max Ernst und Herausgeber ihrer Werkkataloge, hat sich mitnichten auf die bekannten Namen beschränkt. Er hat überhaupt nicht nach Namen gewählt, sondern verfolgt ein Konzept, das sich im Titel andeutet. Für ihn ist das 19. Jahrhundert nicht das der Moderne oder ihrer Wegbereitung, sondern ein heterogenes Jahrhundert, das seinen gemeinsamen Nenner nicht in stilistischer Übereinstimmung findet – wie es die herkömmliche Kunstgeschichte mit ihrer Entwicklungslogik postuliert –, sondern in der Verwandtschaft ihrer Themen. In der überall durchschimmernden Nähe und Neigung zum Verborgenen, Abseitigen, zur künstlerischen Entsprechung dessen, was Sigmund Freud unter dem Entsetzen seiner Zeitgenossen in wissenschaftliche Erkenntnis fasste.

Verklemmtheit und Karikatur

Spies ist der große Bewunderer und Erklärer des Surrealismus, der für ihn im Werk Max Ernsts kulminiert. Doch im Grunde ist das 19. Jahrhundert weitaus surrealistischer. Da ist manch’ süßliche Verklemmtheit zu sehen, so bei Edward Burne-Jones’ „Lagernden Frauen“ von 1861, oder schwülstige Salonkunst, wie bei dem ganz unbekannten Carlos Schwabe mit dem ungemein kunstvoll ausgeführten Blatt „Der Tod und der Totengräber“ von 1895. Und auch der vermeintliche Realismus eines Jean-François Millet aus der Mitte des Jahrhunderts, den Spies in seiner antithetisch aufgebauten Ausstellung dagegenhält, lässt sich als ideologisches Festhalten an einer Vergangenheit lesen, die zu seiner Zeit bereits im Verschwinden begriffen war. Doch, große Realisten sind durchaus vertreten wie Edouard Manet mit seiner „Frau mit Katze“ von 1863 oder Gustave Courbet mit dem „Selbstbildnis an der Staffelei“ um 1847. Und dann die ätzend realistischen Karikaturen Honoré Daumiers aus dem bürgerlichen Milieu des Zweiten Kaiserreichs, all die Advokaten und Kunstfreunde in ihrer Eitelkeit.

Jenseits aller Stilgrenzen

Das Schöne an der Zeichnung – im weitesten Sinne – ist, dass sie ein viel weiteres Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten kennt als die Malerei, und dass auch mindere Namen bisweilen ganz und gar großartige Blätter hinterlassen. So entfaltet sich hier ein Panorama der französischen Kunst, das über die üblichen Gemäldepräsentationen weit hinausreicht. Im Verlauf des Rundgangs durch das Tiefgeschoss der Albertina kommen dann immer mehr Symbolisten vor, Odilon Redon, Gustave Moreau, Fernand Khnopff, Félicien Rops. Da denkt man dann unwillkürlich an das meisterliche Buch des verstorbenen Werner Hofmann von 1960, „Das irdische Paradies“, in dem die souveräne Überschreitung aller Stilgrenzen unter Verweis auf die Kernthemen des Jahrhunderts vorformuliert ist.

Für den Katalog zu seiner Ausstellung hatte sich Spies etwas Besonderes ausgedacht: Kommentare von Schriftstellern, Filmemachern, Künstlern – insgesamt 100 zu jeweils einer der gezeigten Arbeiten. Wer wollte, konnte eine eigene Zeichnung beisteuern, wie Neo Rauch oder Anish Kapoor, oder das betreffende Werk interpretieren, wie Jeff Koons oder Tony Cragg. Alexander Kluge hat sich mit einem der frühesten Blätter der Ausstellung beschäftigt, Ernest Meissonniers „Barrikade“ von 1848, eine spontane Momentaufnahme dieses ansonsten doch als „Uniformknopfmaler“ verschrienen Pedanten. Das Blatt hält das Erschrecken fest angesichts der zahllosen Toten, die zwischen den Pflastersteinen auf der Straße liegen. Vielleicht ist es dieses Erschrecken, aus dem sich die folgenden Jahrzehnte des Symbolismus und der dunklen Ahnungen speisen.

Wien, Albertina, bis 3. Mai 2015, Katalog 344 S., 32 €

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