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Zeit SCHRIFTEN: Sag zum Abschied leise Jugoslawien

Mit dem Ländercode .yu verschwand im März die letzte Spur Jugoslawiens aus der internationalen Öffentlichkeit.

Von Gregor Dotzauer

Mit dem Ländercode .yu verschwand im März die letzte Spur Jugoslawiens aus der internationalen Öffentlichkeit. Ein Abschied, den das auf dem Areal von Titos Belgrader Residenz errichtete Muzej istorije Jugoslavije am letzten Tag noch einmal in Form einer Party inszenierte. Die Gefahr, dadurch die Totenruhe des Marschalls zu stören, dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Bis heute weiß niemand, ob Titos Leichnam wirklich im Haus der Blumen, wie das monumentale Mausoleum heißt, bestattet liegt. Seit einem knappen halben Jahr firmiert jedenfalls das unter serbischer Verwaltung stehende Museum im Netz unwiderruflich unter www.mij.rs, die Montegriner hängen ein .me an ihre Adressen, während Kroaten, Slowenier, Bosnier und Mazedonier ihre Unabhängigkeit schon länger mit eigenen Domainendungen betonen.

Der Vielvölkerstaat lebt dennoch auf vielen widersprüchlichen Ebenen fort: in der wehmütigen Verklärung einiger Altvorderer wie in den medialen und informellen Allianzen liberal-oppositioneller Kräfte, die dem Dünkel der einzelnen Nationen die alte Vorstellung vom gütlichen Miteinander der Regionen entgegensetzen. Auch als westeuropäisches Phantasma ist Jugoslawien zumindest als kulturelle Idee noch lange nicht erledigt.

Mit der Angliederung von Bulgarien und Rumänien, wie sie etwa das Übersetzungsnetzwerk www.traduki.eu für „Literatur aus Südosteuropa“ betreibt, ist es sogar größer denn je. Auf den Seiten von Traduki finden sich PDF-Portfolios vieler Autoren, die hierzulande noch auf ihre Entdeckung warten. Manche, wie Sreten Ugrimik, der auch Gast des bevorstehenden Literaturfestivals ist, oder die Dichterin Dragana Mladenovik, bekommen im nächsten Frühjahr, wenn Serbien den Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bildet, eine Extrachance – viele warten noch auf ausländische Verlage. Sie alle jedoch, ob ehemalige Jugoslawen oder nicht, werden von einem mächtigen, von keiner geografischen Definition einholbaren Phantasma, dem Balkan, überlagert.

„Wenn mich jemand aufforderte“, erklärt der im Kosovo geborene und größtenteils in Kanada lebende serbische Jude David Albahari im „Schreibheft“ (Nr. 75, 223 Seiten, 12 €, www.schreibheft.de), „den Balkan mit einem Satz zu definieren, wie würde er lauten? Der Balkan ist ein Albtraum? Oder: Der Balkan ist der Flaschenhals der Historie? Oder vielleicht: Der Balkan ist eine Geschichte für sich? Oder wie jemand vor langer Zeit formulierte: Der Balkan ist ein Irrtum?“

Nicht auszuschließen, dass dann auch Europa ein Irrtum wäre. Die Grenzen dieses Gebildes sind Albahari, der in Zemun, dem österreichisch-ungarisch geprägten Bezirk Belgrads am rechten Ufer der Donau und am linken der Save, noch eine Wohnung hat, mindestens so verdächtig. „Nicht immer erkenne ich sie; handelt es sich doch um eine hauchdünne Grenze, deren Berührung man leicht mit einer Spinnwebe oder einer sanften Frühlingsbrise verwechseln mag. Es gibt bewegliche Ziele, nicht wahr? Warum sollte es dann nicht auch bewegliche Grenzen geben, solche, die nicht einzelne Länder umgeben, sondern unklar zwischen verschiedenen Kulturen, verschiedenen Geisteszuständen, verschiedenen historischen Wahrheiten verlaufen?“ Albaharis Essay ist eine der Textinseln, die Esther Kinskys Reiseerzählung „21 Grad Blau – Mein Balkan“, dem 100-seitigen Herzstück des „Schreibhefts“, eingelagert sind. Fundstücke und Originalbeiträge von 17 Schriftstellern wie dem Rumänen Constantin Virgil Banescu, der Kroatin Ivana Sajko oder der Serbin Ana Ristovik. In ihnen spiegeln sich die Orte, die die deutsche Prosaistin, Lyrikerin und Übersetzerin im Verlauf ihres langen (Um-)Weges vom Wiener Bezirk Ottakring bis zu ihrem Wohnsitz im ungarischen Battonya an der rumänisch- serbischen Grenze aufsuchte.

Kinskys Stärken liegen im Atmosphärischen: in Kindheitserinnerungen, im Blick auf die Baracken der Roma, im Wechsel des Lichts zwischen Gleisen und Flüssen. Wer mehr von der unmittelbaren sozialen und politischen Wirklichkeit dieses Balkans erfahren will, wird auf www.pescanik.net reich informiert – auch in englischer Sprache. Zehn Jahre lang präsentierten Svetlana Lukik und Svetlana Vukovik, die beiden Gründerinnen der nach Danilo Kiš’ Roman „Die Sanduhr“ benannten Medienfirma, beim Belgrader Sender B92 allwöchentlich anderthalb Radiostunden mit Gesprächen und Berichten aus dem radikalliberalen Widerstand gegen ein immer noch in alten Lähmungen befangenes Land. Unnachgiebige Kritik gilt noch dem jetzigen serbischen Präsidenten Boris Tadik.

Anfang Juli gaben die beiden bekannt, „Pešmanik“ künftig nur noch als Website und Verlag zu betreiben – und die Idee eines Internetradios rund um die Uhr ins Auge zu fassen. „Wir haben“, so Lukik, „das Land bewässert und gemäht, die Torpfosten gestrichen und einen Ort für die Menschen geschaffen, die in ihrem eigenen Namen frei sprechen wollten.“ Viele davon seien verstummt, hielten die Sendung für nicht mehr konstruktiv oder gar für kontraproduktiv.

Wenn die Autoren von „Beton“, der „Kulturpropagandabeilage“ der Tageszeitung „Danas“ (siehe Tagesspiegel vom 18. 4. 2010) wütende Anarchos sind, dann sind die Intellektuellen von Pešmanik noch von der Möglichkeit einer staatlichen Modernisierung beseelt. Aber was heißt in Serbien schon Zukunft? Svetlana Lukik misstraut Versprechen und Illusionen: „Man sollte in der Verfassung den Satz ,Kosovo ist Serbien“ durch die Formulierung ersetzen: ,Der Gebrauch des Futurs in öffentlichen Reden ist untersagt.’“ Vielleicht wäre, als kurzes Experiment, ein solches Verbot sogar für die politische Kultur Westeuropas hilfreich.

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