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Zeit SCHRIFTEN: Serbien darf nicht sterbien

Mit seinem Traum, die Philosophie des 20. Jahrhunderts noch einmal vor der exakten Wissenschaft zu retten, schien er nicht erst für das 21.

Von Gregor Dotzauer

Mit seinem Traum, die Philosophie des 20. Jahrhunderts noch einmal vor der exakten Wissenschaft zu retten, schien er nicht erst für das 21. Jahrhundert aus der Zeit gefallen. Der „Glaube des denkenden Menschen“, als den Karl Jaspers (1883–1969) die Selbstergründung der Existenz fortführen wollte, sein Vertrauen auf eine Freiheit, in deren Bewusstsein sich der Mensch ergreift – das waren Vorstellungen, die in der aufkommenden Begeisterung für die anonymen Strukturen eines posthumanistischen Zeitalters schnell verwehten. Wer hätte Jaspers nun ausgerechnet in Serbien eine Renaissance zugetraut. „Die Schuldfrage“, 1946 als Antwort auf den Kollektivschuldvorwurf der Alliierten an die Deutschen veröffentlicht, bewegt die geschundene, pauschal der Komplizenschaft mit einem völkermörderischen Regime geziehene Seele der Serben, seit sie 1999, ein Jahr vor Slobodan Milosevics Sturz, im Samizdat Verlag des liberalen Belgrader Radio- und Fernsehsenders B92 erschien

„Moralisch kann immer nur der Einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden“, heißt es bei Jaspers. Es sei „sinnwidrig, ein Volk als Ganzes eines Verbrechens zu beschuldigen“. Jaspers’ Schrift war das Werk eines politisch untadeligen, durch seine Ehe mit der Jüdin Gertrud Mayer sogar leiderfahrenen Geistes. 1937 wurde er erst mit Lehr-, im Jahr darauf auch mit Publikationsverbot belegt. Sein auf „Durchhellung und Verwandlung“ der deutschen Seele setzender Gestus hatte aber auch etwas hoffnungslos Idealistisches. Viele Serben müssen Jaspers rein exkulpatorisch verstanden haben.

In einer einmaligen deutschen Sonderausgabe von „Beton“, einer zweiwöchentlich erscheinenden „Kulturpropagandabeilage“ zur linksliberalen Belgrader Tageszeitung „Danas“ (Heute), polemisiert Zoran Janic gegen die Rezeption der „Schuldfrage“ – und gegen Jaspers, dem er empfiehlt, statt von Schuld lieber von Verantwortung zu sprechen, gleich mit. Das ist in mehreren Punkten ungerecht, auf die serbische Amnesie bezogen, der „Beton“ (Gratisexemplare unter office@s-fischer-stiftung.de) mit allen intellektuellen, literaturkritischen und satirischen Mitteln abzuhelfen versucht, aber offenbar bitter nötig.

„Nach dem Krieg“, schreibt Zanic in der mithilfe des Literaturnetzwerks „Traduki“ (www.traduki.eu) übersetzten Nummer, „entschuldigte sich die Deutsche Bahn öffentlich bei den Juden, weil ihre Züge dazu benutzt worden waren, die Juden in die Konzentrationslager zu transportieren. Was sollen wir in Serbien tun, wo es noch zu keiner Entschuldigung gekommen ist, obwohl wir wissen, dass die Busse, mit denen die Bosniaken von Srebrenica zum Exekutionsplatz gefahren wurden, von hier kamen?“ In einer fiktiven Anzeige ruft „Beton“ (www.elektrobeton.net) dazu auf, sich als „Märtyrer von Den Haag“ heilig sprechen zu lassen. Bewerber werden gebeten, „Videos von Exekutionen“ einzureichen, „Fotografien von Ermordungen, Brandstiftungen und Vergewaltigungen; Tonaufnahmen von Peinigungen; Ohrensammlungen und andere Souvenirs“, und das Ganze zu schicken an die „Scheinheilige Bischofssynode des Serbisch-Orthodoxen Geheimdienstes, Goldenes-Kalb-Str. 666, Mordor, Hinterste Poststelle: Himmlisches Serbien“.

Auf postjulit.blog.de erklärt „Beton“-Redakteur Sasa Ilic, das Blatt sei „ eine Widerstandsbewegung innerhalb einer Kultur, die seit den 80er Jahren von Nationalisten beherrscht war“. Nach der Aushungerung der 2008 eingegangenen „Feral Tribune“ aus dem kroatischen Split gehört „Beton“ zu den wichtigsten radikalliberalen Stimmen Ex-Jugoslawiens, mit Autoren aus allen früheren Teilrepubliken – und der deutschen Kultur als entscheidendem Bezugspunkt. W. G. Sebalds Studie „Luftkrieg und Literatur“ gilt ein Essay von Davor Beganovic. Man huldigt Barbi Markovics Thomas-Bernhard-Remix „Ausgehen“, der „Gehen“ in die Belgrader Clubszene versetzt, und man lästert gegen Peter Handke. Das alles ist manchmal ein wenig theorieverschwurbelt, aber immer lebendig. Ein lesenswertes Stimmungsbild.

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