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Die Welt ist groß und lässt Sie grüßen. Gabriele Heinze in „Muttersprache Mameloschn“.

© Arno Declair

Zeitgenössische Dramatik: Durch meine Adern fließt Sand

Die großen Theater tun sich schwer mit ihrer Zeitgenossenschaft. Entweder verfallen sie dem Dokumentarwahn oder verwursten erfolgreiche Stoffe anderer Genres. Wie aber entsteht ein relevantes Stück? Was die zeitgenössischen Dramatiker von der Wirklichkeit wissen: ein Streifzug durch die Szene

Ein alter Mann schleppt sich an Krücken über die Bühne. Das Gesicht aufgeschwemmt, die Glieder verfettet. Hieron, der Herrscher der Welt. Das Gift der Macht hat ihn aufgeschwemmt wie eine Überdosis Cortison. Niemand darf bei Nacht das Haus verlassen, keiner sprechen, selbst die Erinnerung hat er seinen Untertanen genommen. Unter dem Joch der Produktivität vegetieren sie vor sich hin, und jeder, der seinen Job verliert, wird hingerichtet. Aber ach, einsam ist dieser Diktator auch. Seine Beherrschten wissen nicht einmal, wie er aussieht. Er ist alles – und zugleich nichts als die Idee der Unterdrückung.

Die Maske des Deutschen Theaters (DT) hat gute Arbeit geleistet. Gesichtsfalten aus Plastinin, Fettpolster aus Schaumstoff – doch so, wie sich Felix Goeser über die Bühne schleppt, erinnert er nicht an einen tragischen König, sondern an eine comichafte Wiederkehr von Marlon Brando in „Apocalypse Now“. Ende August eröffnete das DT seine Spielzeit mit der Uraufführung von Mario Salazars „Hieron. Vollkommene Welt“, das Regisseur Stephan Kimmig etwas gewagt mit Schillers „Demetrius“-Fragment kombinierte. Man staunte nicht schlecht. Über die Einfalt, mit der der junge Berliner Autor mit seiner Holzschnitt-Dystopie einer durchökonomisierten Welt zu Leibe rücken wollte. Über das hilflose Pathos, mit dem hier unserem Turbokapitalismus der Spiegel vorgehalten werden sollte.

Das Theater ist verunsichert. Früher hingen noch die Geister vergangener Regie- und Schauspielgrößen in der Luft, heute fährt einem sofort feiner Angstschweiß in die Nase. Es herrscht die nackte Not. Die großen Theater (von denen hier die Rede ist) bekommen Subventionen. Dafür müssen sie liefern. Sinnhaftigkeit oder Relevanz. Wenn das nicht geht, müssen sie zumindest der Ort sein, an dem man sinnhaft seine Ratlosigkeit ob der Zustände in Szene setzt. Auf der händeringenden Suche nach Bedeutsamkeit haben die Theater in den letzten Jahren zwei Überlebensstrategien entwickelt. Sie holen in sogenannten Dokumentarformen echte Menschen auf die Bühne. Und sie zeigen Dramatisierungen durchgesetzter Romane. Echte Menschen garantieren gesellschaftliche Wirklichkeit. Inszenierte Klassiker von Tolstoi bis Thomas Mann lotsen immerhin Schulklassen ins Haus.

Und die Theaterautoren? Man kann nicht gerade sagen, dass es zu wenige gibt. Im Gegenteil. Es gibt auch Festivals und Stückemärkte, die neue Stücke vorstellen, allein zwei in Berlin, eines in Heidelberg und neuerdings eines in Essen. Es gibt auch wahnsinnig viele Uraufführungen, aber die meisten finden auf kleinen Bühnen statt, im Studio, vor einem Fachpublikum. Der Theaterautor ist präsent, aber – wenn er nicht gerade Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Moritz Rinke heißt – trotzdem fast unsichtbar.

Eingeklemmt zwischen der großen „Zauberberg“-Dramatisierung und den großen Dokuabenden mit Müllmännern oder Prostituierten von der Reeperbahn bekommt er kaum Luft, schreibt aber, um zu überleben, ein Stück nach dem anderen und spürt dabei den Anspruch wie eine Pistole auf der Brust: „Schreib bloß relevant.“ Doch wie geht das nur? Relevant schreiben?

Marianna Salzmann ist die Autorin der Stunde. Zumindest in Berlin. Im letzten Jahr kam ihr wunderbares Stück „Muttersprache Mameloschn“ heraus, ebenfalls am DT. Es erzählt von drei Frauen innerhalb einer Familie, und es erzählt anhand ihrer Lebensgeschichte von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts: Die Großmutter, eine Jüdin, überlebte das KZ und war in der DDR eine überzeugte Kommunistin. Die Mutter wollte weder von Judentun noch Sozialismus etwas wissen, während die Enkelin im New York von heute Boden unter den Füßen sucht und dabei Hilfe bei der Großmutter findet. Über die Kontinente verteilt, aber in Liebe schön miteinander verstrickt.

Die Autorin weiß, wie man Pointen setzt und das Schwere leicht erzählt, ohne ihm Substanz zu nehmen. Jüdische Witze spielen eine zentrale Rolle. Der Abend ist so erfolgreich, dass er von der kleinen Box in die Kammer verlegt wurde. 1985 in Russland geboren, kam Marianna Salzmann als Zehnjährige nach Deutschland. Noch keine dreißig, hat sie schon über zehn Stücke geschrieben. Ende letzten Jahres wurde „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ am Ballhaus Naunynstraße gezeigt, das Salzmann zusammen mit Deniz Utlu verfasst hat, und Ende November läuft „Schwimmen lernen“ am Maxim Gorki, für das sie unter der neuen Leitung auch eine Schreibwerkstatt betreut. Beide Stücke zeigen freilich, wie schwierig das ist mit der Relevanz, also dem richtigen Verhältnis zwischen Privatem und Allgemeingültigem. Was bei „Muttersprache Mameloschn“ schlafwandlerisch ineinanderspielt, fällt plump auseinander. „Schwimmen lernen“ erzählt von der Liebe zweier Frauen und ihren bald redundanten Konflikten. Wie zum Ausgleich stürzt sich „Fahrräder spielen eine Rolle“ dagegen mit Wucht auf ein gesellschaftliches Thema, auf den NSU-Prozess und die grotesken Pannen bei der Aufklärung der rassistisch motivierten Morde.

Die Empörung ist das Problem der Autoren

Die Welt ist groß und lässt Sie grüßen. Gabriele Heinze in „Muttersprache Mameloschn“.
Die Welt ist groß und lässt Sie grüßen. Gabriele Heinze in „Muttersprache Mameloschn“.

© Arno Declair

Diese Wucht, beziehungsweise die Empörung der Autoren ist das Problem. Das Stück stellt keine Frage, sondern will beweisen, dass es „viel fremdenfeindlichen Alltag“ in Deutschland gibt. Dafür schickt es den Angestellten einer Cateringfirma sowohl auf einen FDP-Parteitag als auch ins Fußballstadion und eben zum NSU-Prozess. So dumm, wie hier dargestellt, sind die Ermittler zwar in Wirklichkeit gewesen. Aber so journalistisch heruntergeschrieben, wird trotzdem kein gutes Stück daraus.

Räume öffnen, anstatt sie selbstgewiss zu verschließen. Konkrete Schmerzen in einem konkreten Konflikt darstellen, das ist die Kunst. Eine passende Sprache gehört auch dazu: „Durch meine Adern fließt Sand“, heißt es in Rik van den Bos Stück „Leerlauf“, das in wenigen Wochen ebenfalls am DT gezeigt wird. Und einige Seiten später: „Für dich ist es, als würde ich ein Foto beschreiben, aber für mich ist es eine ganze Welt.“ „Leerlauf“ erzählt von Birke, einem jungen Mann, der aus einem Kriegseinsatz (Afghanistan?) traumatisiert ins mitteleuropäische Zuhause heimkehrt und sich „als lebende Leiche“ fühlt. Und von Bouwman, einem 53-jährigen Vater, der bei dem gleichen Kriegseinsatz seinen Sohn verloren hat und durch Birkes Erzählungen Frieden finden will.

Es geht in diesem dichten Kammerspiel also um einen Konflikt, der sich langsam vom Rand des kollektiven Bewusstseins vorarbeitet und mittlerweile in Talkshows verhandelt wird („Leute, vergesst die Not Eurer Soldaten nicht!“). Doch zugleich behandelt das Stück viel mehr – das unwirklich anmutende Erleben Traumatisierter und das Schuldgefühl des Überlebenden.

Um eine schreckliche geschlossene Welt, nämlich die eines Bergsanatoriums, geht es auch in „Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier“ von Anne Lepper, im letzten Jahr von der Jury der Zeitschrift „Theater heute“ als Nachwuchsdramatikerin des Jahres ausgezeichnet. Thomas Manns „Zauberberg“ und Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ – selbstbewusst lehnt Lepper, 1978 geboren, sich an die alten Meisterwerke an und findet doch eine einfach raffinierte Form, vom Optimierungswahn des Heute zu erzählen. Bei Lepper bildet die Bewohnerschaft eine menschliche und diskursive Resterampe. Dicke, von ihren Eltern abgeschobene Kinder sollen abnehmen, was sie nicht können, weil es mit dem Segen des unsichtbar bleibenden Arztes regelmäßige Fressorgien gibt. Die Kinder sollen auch nicht abnehmen. Sie bilden das outgesourcte Verdrängte und plappern in einem leicht an Werner Schwab erinnernden Duktus mit schauriger Unbedarftheit von ihren geliebten Eltern, die sie bald abholen kommen, und geben, ohne es zu wissen, Sätze von Slavoj Zizek bis Ernst Jünger von sich, halb anrührende Jammergestalten, halb Durchlauftonnen herrenlosen Geredes.

So wohltuend indirekt geht Felicia Zeller in ihrem neuen Stück „X-Freunde“, das von „Theater heute“ zum Stück des Jahres 2013 gewählt wurde, nicht vor. Zeller springt mitten hinein in die Konzentration zerbröselnde Facebook-Gegenwart und führt drei Freunde aus dem kreativen Prekariat auf die Bühne, die uns in unvollständigen Sätzen desolate Lebensverhältnissen vortanzen. Aber nur weil das Wort Agentur und Champagner vorkommt und die Figuren aneinander vorbeireden, erzählt das noch nichts von der Isolation des Einzelnen oder anderen Problemen der Gegenwart. Das ist modische Feuilleton-Dramatik, Zeitungsdebatten hinterherbuchstabiert, die vor allem den Dramaturgen im Blick hat: Relevanz-Simulation, mehr Symptom oder Effekt einer Krise als ihre Darstellung.

Was bitte heißt hier Welthaltigkeit?

Die Welt ist groß und lässt Sie grüßen. Gabriele Heinze in „Muttersprache Mameloschn“.
Die Welt ist groß und lässt Sie grüßen. Gabriele Heinze in „Muttersprache Mameloschn“.

© Arno Declair

Aber wie geht das? Relevant schreiben? In diesem Jahr war die geschätzte Kritikerin Sigrid Löffler Alleinjurorin der Autorentheatertage am Deutschen Theater. Bitte kein Beziehungsgedöns, bitte nicht noch eine Familienaufstellung, stattdessen Welthaltigkeit schrieb sie den Autoren ins Stammbuch. Zwei der drei Stücke, die während der Langen Nacht der Autoren in Werkstattinszenierungen schließlich gezeigt wurden, waren dann was? Beziehungs- und Familiengeschichten! Mit der Welthaltigkeit ist es so eine Sache. Wie erzählt man von ihr, in welchen Konstellationen? Das Soldatenstück „Leerlauf“ entpuppt sich als Vater-Sohn-Geschichte. Die rührende Wirkung von „Seymour“ verdankt sich dem Missverhältnis zwischen der Elternliebe der Kinder und der Gleichgültigkeit der Eltern, und „Muttersprache Mameloschn“ durchwandert ein ganzes Jahrhundert.

Bei den diesjährigen Mülheimer Theatertagen behandelten gleich drei Stücke das Thema Missbrauch, eines von Elfriede Jelinek, eines von Franz Xaver Kroetz, doch den Preis bekam die unbekannte Schweizer Autorin und Berliner UdK-Studentin Katja Brunner für ihr Inzest-Drama „Von den Beinen zu kurz“. Das Stück ist ungeheuerlich. Es erlaubt sich die unerhörte Freiheit, den Missbrauch des Vaters an der fünf-, sechs jährigen Tochter detailliert zu beschreiben und gleichzeitig das klassische Täter- und Opferschema zu vermeiden. Die Selbstrechtfertigungen des Vaters, die Leugnungsversuche der Mutter, die Schuldgefühle und emotionale Abhängigkeit des Kindes. All das wird pur, ohne die beruhigende Zurichtung der Verurteilung dargestellt und bietet einen kaum erträglichen Blick in die Hölle eines aus dem Ruder gelaufenen Zusammenlebens. Vater, Mutter, Kind. Die Welt passt in die kleinste Hütte. Und zeigt dort die Wunden und blinden Flecken unserer Gesellschaft vielleicht am deutlichsten.

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