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Zeitschrift "Der Brenner": Meister werden und zugrunde gehen

Vor 100 Jahren, am 1. Juni 1910, ist die erste Ausgabe der Zeitschrift „Der Brenner“ erschienen. Das mitteleuropäisches Ideenforum ist sich bis zur letzten Ausgabe treu geblieben.

Die meistbefahrene Verbindung zwischen Österreich und Italien ist der Brenner. Doch wer den Alpenpass vor Pfingsten mit dem Auto passieren wollte, musste mit Protestaktionen der transitgeplagten Tiroler für und gegen das aktuelle, milliardenschwere „Basistunnel“-Projekt rechnen. Seit der Antike führen Wege, über den Brenner führen, ebenso lange existieren Konflikte wegen unterschiedlicher Nutzungsstrategien. Wenn heute Bürgeriniativen gegen die „rücksichtlose Zerstörung der Landschaft“ durch Tunnelbaustellen demonstrieren, dann können sie sich auf eine erstaunliche, fast vergessene publizistische Protesttradition berufen.

Heute vor 100 Jahren, am 1. Juni 1910, erschien in Innsbruck die erste Ausgabe der Zeitschrift „Der Brenner“. Mit dem symbolischen Namensbezug auf die kulturgeografische Schnittstelle zwischen Deutsch-Österreich und Italien entwickelte sich diese Halbmonatsschrift über Jahrzehnte als ein mitteleuropäisches Ideenforum, das beide Weltkriege überdauerte. Der Organisator und Finanzier des Projektes, Ludwig von Ficker (1880-1967), beauftragte den aus Bozen stammenden Naturphilosophen Carl Dallago (1869-1949) mit der Programmgestaltung.

Viele junge Zeitgenossen waren von der charismatischen Persönlichkeit Dallagos und dessen antibürgerlichen Existenz fasziniert, die er als meditierender Wanderer in den Südtiroler Bergen verkörperte. In den ersten Jahren prägte Dallago mit seiner an Nietzsche und Laotse orientierten Kritik der traditionellen Institutionen die Linie des „Brenner“.

Sein Motto lautete: „Der Gesellschaft opfern und Philister werden, oder sein Leben leben und vielleicht ein Meister werden und zugrunde gehen.“ Schon seine frühen Gedichte spiegelten die lebenslange zivilisationskritische Grundüberzeugung, sich von der christlichen Moral und scholastischen Vernunft befreien zu müssen. Der Heuchelei und Korruption in der urbanen Gesellschaft zu entfliehen, erschien ihm nur durch den Rückzug in ein naturgemäßes Leben möglich.

Obwohl Dallago sich in seinen „Kulturlichen Streifzügen eines Einsamen“ als großer Einzelgänger stilisierte, suchte die Brenner-Redaktion die Verbindung mit anderen österreichischen Avantgardekreisen, so auch mit dem radikalen Kulturkritiker Karl Kraus. Erstaunlicherweise empfand der Fackel-Herausgeber, der in der Regel alle Annäherungsversuche zurückwies, den „Brenner“ jedoch nicht als Konkurrenz, sondern als ergänzende Lichtquelle. Als später nicht nur Rilke oder die expressionistischen Lyriker Else Lasker-Schüler und Georg Trakl, sondern auch der katholische Existenzialist Theodor Haecker im Brenner zu Wort kamen, zog sich Dallago wegen dieser „christlich-religiösen Fehlentwicklung“ enttäuscht zurück.

Mitte der zwanziger Jahre begann er fast gleichzeitig mit seinen Polemiken gegen Mussolini eine intensive Korrespondenz mit dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. 1926 flüchtete er vor den italienischen Faschisten nach Nordtirol und erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft. 1931 brach Dallago definitiv mit dem „Brenner“-Herausgeber Ludwig von Ficker – traf ihn aber noch einmal kurz vor seinem Tod zu einer Aussprache.

Während des Nationalsozialismus musste der „Brenner“ verstummen – verlosch aber nicht. In der letzten, 1954 erschienenen Nummer, die sich nach vorheriger Anmeldung wie alle anderen Ausgaben auch online kostenlos studieren lässt (http://www.aac.ac.at/brenner), erinnerte der Herausgeber noch einmal an die Mahnung des Beginns, dass „Kultur, Kunst, Dichtung“ nur dann „lebendig und fruchtbar“ bleiben, wenn sie sich um ein „Unterbringen der menschlichen Natur“ bemühen.

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