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Zeitschriften: Fass! Dich! Kurz!

Kurz schreiben hat Schriftsteller schon immer fasziniert. Twitter macht aus der Tugend auch eine Not - mit Chancen für das Schreiben im Netz, wie die New Yorker Zeitschrift "n+1" feststellt

Von Gregor Dotzauer

Im Jahr 1986, als der amerikanische Creative-Writing-Professor Jerome Stern den ersten Wettbewerb für „MicroFiction“ einrichtete, waren 250 Wörter noch das schlankste der literarischen Gefühle. Nicht ohne zehn Jahre später in der Anthologie zu The World’s Best Short Short Story Contest (W. W. Norton) darauf hinzuweisen, dass von Äsops Fabeln bis zu Tschechows Kurzgeschichten, von Parabeln des Neuen Testaments bis zu Kafkas Tagebuchnotizen, Kürze Erzähler schon immer herausgefordert hatte, glaubte er mit dem Äquivalent einer Schreibmaschinenseite ein Maß gefunden zu haben, das bei der Erschaffung einer narrativen Welt kaum unterschritten werden könne.

Minimalismusextremistinnen wie Amy Hempel versuchten, ihm damals schon das Gegenteil zu beweisen. Doch Stern kannte die 140 Zeichen von Twitter noch nicht. Hätte er deren Möglichkeiten noch kennengelernt, wäre ihm wahrscheinlich das Pointengewitter aufgestoßen, das sie entfachen: Das allein auf den Knalleffekt Ausgerichtete galt ihm als unliterarisch. Selbst wenn man diesen Einwand teilt, wird er durch das Serielle von Tweets und der daraus entstehenden Spannung abgeschwächt. In den Worten, mit denen eine kluge Betrachtung des Twitter-Phänomens in der Sommerausgabe der New Yorker Zeitschrift „n+1“ mit dem Generalthema „Awkward Age“ (www.nplusonemag.com) beginnt: Es ist nur möglich, eine klare Haltung gegenüber Twitter einzunehmen, solange man nicht dabei ist.

Im Verdammen aus der ahnungslosen Distanz mag das Elend vieler Kulturkritik liegen. Was die Weltmeere der Dummheit und der Banalität betrifft, in denen man auf Twitter untergehen kann, versucht der ungezeichnete Text aber gar nicht erst, den gängigen Urteilen zu widersprechen. Er legt nur Wert darauf, das Inhaltliche und das Performative auseinanderzuhalten. Der ganze Generationenabgrund zwischen Verweigerern und Enthusiasten scheint auf, wenn Lena Dunham, die Erfinderin und Hauptdarstellerin der hymnisch gefeierten HBO-Serie „Girls“ in der Diskussion mit ihrem Vater zitiert wird: „Er so: ,Warum sollte ich irgendjemandem erzählen, was ich gerade als Snack hatte, das ist doch privat?!’ Und ich so: ,Warum sollte man überhaupt einen Snack haben, wenn man es nicht gleich jemandem erzählt? Warum überhaupt essen?’“

Das Micro-Blogging auf Twitter kann also wie das normale Bloggen zur „Blogorrhoe“ führen: einem Schreiben, das die „stilistischen Tugenden von Prägnanz, strenger Auswahl und Unpersönlichkeit“ hinter sich lässt. „n+1“ entdeckt allerdings in Twitter selbst eine Dialektik, die nicht erst im „blogorrhoeischen Stil“ eines David Foster Wallace kunstvoll verwandelt aufgefangen wird, sondern jedem einzelnen Tweet innewohnt. „Ein Tweet ist so kurz, dass man unmittelbar auf den Punkt kommen kann, aber auch so kurz, dass er keinen haben muss. Twitters formale Eigenheiten neigen gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen: zum Wesentlichen, aber auch zum Überflüssigen, zum Konzisen, aber auch zum Weitschweifigen.“ Neben seinen Nachrichtenqualitäten habe Twitter deshalb einen „überraschenden Aufschwung des epigrammatischen Impulses in einer literarischen Kultur“ mit sich gebracht, „die sonst das rein Persönliche und das Super-Umgangssprachliche als Ausweis ihrer Authentizität wertschätzt.“

Nicht jeder Tweet, der sich nach dem Epigramm streckt, reicht dorthin – geschweige denn zur Twiction, jener aktuellen Form von Mikrofiktion, die längst ihrerseits wettbewerbstauglich geworden ist. Doch sowohl das Scheitern wie das Selbstreflexive waren auch Aphoristikern alten Schlags wie E. M. Cioran vertraut: „Irgendwo zwischen dem Epigramm und dem Seufzer Schiffbruch erlitten haben!“ Die Spannweite reicht von Paulo Coelhos Sentimentaitäten („Der Schmerz von gestern ist die Kraft von heute“) bis zu den „Small fates“ des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers Teju Cole („Open City“), der mit Nachrichten aus der „New York Times“ von 1912 Félix Fénéons „Nouvelles en trois lignes“ wiederbelebt. Und dann gibt es natürlich jede Menge formatspezifischer Ironie wie die von „Schriftsteller“: „In kurze Tweets jede Menge Leerzeichen einzufügen, das ist meine Art von Reichtum und Verschwendung.“ So was können nicht mal Haikus.

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