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Neue Selbstbezogenheit. Die slowenische Armee errichtet am 15. November einen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Kroatien.

© imago

"Zentrum für Politische Schönheit"-Gründer: "Unseren Politikern mangelt es an Visionen"

Stacheldraht statt mutiger Politik für Verfolgte, Flüchtlinge und Entrechtete – Europa baut eine Schallmauer. Warum wir eine weniger ratlose Politik brauchen, beschreibt Philipp Ruch in seinem neuen Buch.

Philipp Ruch, 1981 in Dresden geboren, lebt in Berlin und ist Gründer des „Zentrums für politische Schönheit“. Die Aktionskünstler haben im November 2014 mit der „Entführung“ der Mauerkreuze in Berlin und vergangenen Juni mit Bestattungen auf dem Friedhof Gatow („Die Toten kommen“) radikal auf das Leid der Flüchtlinge aufmerksam gemacht. Ruch will Politik und Gesellschaft zum Eingreifen bewegen, sein Konzept von „politischer Schönheit“ versteht sich in romantischer Tradition als humanitäre Tat. Eines seiner Vorbilder ist Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte. Die Organisation hat viele „Boat People“ aus dem Chinesischen Meer gerettet. Philipp Ruchs Buch „Wenn nicht wir, wer dann?“ erscheint an diesem Montag im Ludwig Verlag, München (ca. 200 S., 12,99 €). Dieser Text ist sein – gekürztes – Vorwort zu dem „Politischen Manifest“.

Wurden wir schon einmal in Gruppen zusammengetrieben? Hatten wir schon einmal Angst, an Ort und Stelle vergewaltigt zu werden? Haben wir schon einmal unsere eigene Vernichtung gefürchtet? Das größte Infrastrukturprojekt unserer Zeit ist eine gigantische Schallmauer um Europa herum. Dieser Schallschutz ist mentaler Art und schützt uns davor, die Hilfeschreie weiter hören zu müssen. Wir wollen nicht zum Ort der Schreie und Leiden dieser Welt werden.

Was wird den Historikern am Ende des 21. Jahrhunderts an uns auffallen? Was werden sie in uns sehen? Sie werden eine Selbstbezogenheit in den reichen Nationen dieser Erde feststellen, die ihnen steinzeitlich vorkommen wird, eine Selbstbezogenheit, die so gar nicht zum kosmopolitischen Geist und den humanistischen Idealen passt, mit denen wir uns brüsten. Vermutlich werden uns die Historiker am Ende des 21. Jahrhunderts als „die Primitiven“ titulieren: „Sie hörten die Hilfeschreie nicht, trotz weltumspannender Kommunikationskanäle. Sie fanden, dass sie das alles nichts anginge.“

Ich bin aufgewachsen in einer Welt, die sich mehr oder weniger um Partys drehte. Die Gedanken gut gekleideter, aufgehübschter junger Menschen kreisten um nicht viel mehr als um die Frage, wohin man ab Donnerstag ausging. Wenn man sie gefragt hätte, was sie beruflich machen, hätten sie guten Gewissens antworten können: Feiern! Feiern war für die meisten eine professionelle Angelegenheit. Doch viele kamen schnell dahinter, dass es eigentlich nichts zu feiern gab. Dass das Scheinwerferlicht auf der Tanzfläche gegen die Wirklichkeit anstrahlte. Dass es Dinge gab, die unsere volle Kraft und Energie viel eher verdienten.

Es gibt Freiräume und Gesetze - doch es fehlen Menschenrechtler

Unsere Zeit wäre geradezu prädestiniert, Menschen mit herausragenden moralischen Qualitäten hervorzubringen, Politikerinnen und Politiker, die ihr Handeln daran orientieren, was politisch, historisch und moralisch „schön“ ist. Schaut man sich die Nachrichten an, wäre nichts dringender als Menschen, die Probleme ernsthaft anpackten. In Deutschland hätten wir die Mittel und die Sicherheit, uns ohne Gefährdung unseres Lebens für die Menschheit einzusetzen.

Die Geschwister Scholl wurden vom NS-Regime hingerichtet, nur weil sie sechs Flugblätter gegen Hitler verteilt hatten. Ossip Mandelstam kostete ein Gedicht gegen Stalin zunächst die Freiheit, später das Leben. Heute werden russische Dissidenten in Fahrstühlen exekutiert. Chinesische Oppositionelle vegetieren in Gefängniszellen dahin. Im Kongo verschleppt der Geheimdienst Menschenrechtler, die dann „versehentlich“ sterben.

In Deutschland hat sich derweil eine historische Sensation ereignet: Es ist schwierig geworden, für sechs Flugblätter, Bücher oder Gedichte verfolgt, verhaftet oder ermordet zu werden. Das wiedervereinigte Deutschland müsste und könnte ein Eldorado der Menschenrechtsbewegungen sein. Große Menschenrechtler könnten darum ringen, die Menschheit zu retten. Die Bundesrepublik hätte die Kraft, bewundernswerte Menschen hervorzubringen, die Großes im Sinn hätten und täten. Während die Freiräume geschaffen und die Gesetze verabschiedet wurden, die Druckereien, öffentlichen Plätze und Zeitungen vorhanden sind, fehlt eigentlich nur noch eines: der Menschenrechtler selbst.

Beim politisch-humanistischen Willen herrscht zurzeit Windstille. Unseren Politikern mangelt es an Visionen, sie sind von Ratlosigkeit gezeichnet. Sie wissen nicht, was zu tun ist. Merkels Schulterzucken ist die Pathosformel einer zielentleerten und stillgestellten Zeit. Was Politiker tun könnten, interessiert sie offenbar nicht. Viele scheinen das Wort „Schönheit“ nicht einmal zu verstehen. Aber wenn man es gegen den Begriff „Politik“ schlägt, erzeugt es den Funken einer Revolution.

Politische Ämter mit Mittelmäßigen und Langweilern zu besetzen ist gefährlicher als Visionen

Wofür Angela Merkel, hier bei der Vereidigung zu ihrer zweiten Amtszeit 2009, und ihr "uninspirierendes" Personal stehen, möchte Autor Philipp Ruch gerne wissen.
Wofür Angela Merkel, hier bei der Vereidigung zu ihrer zweiten Amtszeit 2009, und ihr "uninspirierendes" Personal stehen, möchte Autor Philipp Ruch gerne wissen.

© dpa

Es geht nicht darum, schlechte Zustände schönzureden oder Politik zu ästhetisieren. Ich schließe sogar aus, dass Ästhetik überhaupt etwas mit Schönheit zu tun hat. Es geht um die grundsätzlichen Ziele. Wenig von dem, was wir heute politisch wollen, bietet Stoff für große Literatur. Manche zweifeln: Wären Visionäre nicht gerade in der Politik gefährlich? Die Sorge ist zynisch. Es ist viel gefährlicher, die höchsten politischen Ämter des Landes mit Mittelmäßigen und Langweilern zu besetzen. Zwischen 30 und 60 Prozent der Wahlberechtigten gehen nicht mehr zu den Urnen. Was sagt das über jene aus, die Politik betreiben? Es ist an der Zeit, die Wahlenthaltung persönlich zu nehmen.

Was wollen wir erreichen? Erreichen, nicht verwalten! Zukünftige Generationen werden staunend vor dem Rätsel stehen, was diese Zeit eigentlich wollte. Wir haben unser politisches Wollen den Zufällen der Geschichte überlassen. Aber wo bleiben unsere eigenen Antworten? Was werden die Archivare über uns im Jahr 2099 herausrücken? Läuft unser ganzes politisches Wollen auf die Inzahlungnahme alter Autos hinaus? Dieser Politik ist der Sinn für Größe, Kraft und Schönheit abhanden gekommen. Wir leben in einer Trockenphase der Weltgeschichte. Es gilt, sie mit Schönheit zu tränken.

Bürger müssen mit Mut politisiert werden

Die meisten Politiker sind so eingespannt in ihre Welt, dass sie nicht dazu kommen, sich den wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Was will ich erreichen? Wofür will ich einmal stehen? Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll? Mangelnde Zeit frisst oft, was uns wichtig ist und uns am Herzen liegt. Doch die Zeit für dieses Nachdenken müssen wir uns nehmen. Es gilt, Ideen wachzurütteln. In demokratischen Systemen ist das Politische ein Kampf der Worte. Denken wir an Parlamentsdebatten, Ansprachen und Wahlkämpfe. Wenn Politik aber ein Kampf der Worte ist, dann ist sie letztlich das Geschäft der Poesie und Schönheit. Von nichts ist die politische Gegenwart heute weiter entfernt.

Die Sprache, die unsere Politiker sprechen, ist mutlos, uninspirierend und leer. Es ist viel die Rede von unpolitischen Bürgern. Aber dass Menschen nur politisch werden können, wenn Politik etwas in ihnen weckt, liegt auf der Hand. Ohne das Gefühl, Teil von etwas Bedeutsamen zu sein, gehen Menschen nicht wählen. Bürger politisiert man mit Mut, Wagnissen und Visionen. Politik ist ein Epos, das überzeugen muss. Den politischen Zielsetzungen der großen Parteien fehlt es spürbar an Größe, Visionen, Mut und Schönheit. Die Abwesenheit von Schönheit und Seelengröße bei jenen, die man der Bevölkerung als Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers präsentiert, machen mich sprachlos.

Man kann Menschen nicht für dumm verkaufen. Das Kanzleramt beinhaltet den wichtigsten Job im drittmächtigsten Land der Welt. Wer denkt da ernsthaft an Angela Merkel, die beim ersten Mal eher unabsichtlich gewählt wurde und dann von ihrem Koalitionspartner mit weiterem uninspirierenden Personal als alternativlos zementiert wurde. Wofür genau will Merkel in die Geschichtsbücher eingehen? Wofür steht ihre Regierung? Merkel wird gerne als die mächtigste Frau der Welt bezeichnet. Was weiß sie mit dieser Macht anzufangen? Was hat sie aus diesem Land gemacht?

Das Problem scheint zu sein, dass wir heute noch in den faustischen Oppositionsbegriffen von Welt und Buch denken. Worte, Kunst und Vorstellungen scheinen zu einer Bücherwelt zu gehören, der jeder Einfluss auf die „Welt“ abgesprochen wird. Ich kenne eine Menge Leute, die ernsthaft glauben, Bücher würden sie von der Welt und vom Leben trennen und nicht sie ihnen näherbringen. Dieselben Menschen, die den Kopf darüber schütteln, wie man meinen konnte, die Welt sei eine Scheibe, erliegen heute viel gravierenderen Wahrnehmungsstörungen. Die Romantiker mögen sich durch Tatenlosigkeit auszeichnen – viele schöne Bücher, nicht eine einzige schöne Tat. Wir können uns an der Schönheit sattsehen und ihre Wirkung durch Genuss abfedern. Aber keine schöne Tat kommt uns veraltet oder zu oft vor, wie Jean Paul schrieb. Und über den „moralischen Zauber und Genuss“ herrscht keine Zeit.

Deutsche Rüstungsindustrie beleidigt unsere politische Intelligenz

Heute ist klar, dass die junge Generation für ihre Opposition gegen die alte ein großes Schlagwort braucht. Alle großen Schlagwörter wurden aus einer Ahnung geboren. Alle großen Manifeste, die ganze Jahrhunderte angeführt haben, begannen mit einer Ahnung. Schönheit ist eine dieser Ahnungen. Dafür müssen wir aber bereit sein, uns von dem zu trennen, was uns hässlich macht. Darunter fallen toxische Vorstellungen ebenso wie Waffenfabriken. Deutschland besitzt heute die drittgrößte Rüstungsindustrie weltweit. Das ist eine Beleidigung unserer politischen Intelligenz. Wie der Export von Waffen in die totalitärsten Regime dieser Welt mit der deutschen Geschichte zu vereinbaren ist, hat noch kein Politiker plausibel darlegen können. Die kommerzielle Produktion von Waffen auf deutschem Staatsgebiet muss endlich gesetzlich verboten und unter Strafe gestellt werden.

Es gibt Dinge, die dürfen nichts mit Märkten, Umsätzen und Gewinnen zu tun haben. Warum sollte eines der reichsten Länder der Welt Geld mit der Vernichtung von Menschenleben verdienen? Wir sind maßgeblich an der Weiterentwicklung, der Herstellung und dem Export von Tötungstechnologie beteiligt. Wer weiß, was all die Rüstungsingenieure in der Energiewende erreicht hätten? Ahnen wir, was uns in den kommenden Jahrzehnten bevorsteht? Was wissen wir von den großen Völkermorden, die uns in Asien und Afrika erwarten? Wir leben womöglich im Anbruch des genozidalsten Jahrhunderts der Weltgeschichte.

Welche Regierungsstelle im Land der Holocausttäter befasst sich mit der Verhinderung der neuen Völkermorde? Wurden angesichts der Massentötungen in Syrien Sonderstäbe im Kanzleramt eingerichtet? Die Frage der Menschenrechte ist eine Frage des Einsatzes der eigenen Rechte zum Schutz der Entrechteten. Sonst haben wir diese Rechte nicht verdient.

Philipp Ruch

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