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Kultur: Ziegen, Zombies und andere Zeitgenossen

Die Saison beginnt: Pläne und Novitäten der deutschsprachigen Schauspiel-Bühnen

Von Günther Grack

Tankred Dorst schweigt, Franz Xaver Kroetz schweigt, Botho Strauß schweigt - selbst Elfriede Jelinek, in der vorigen Saison noch auf diversen Bühnen präsent, schweigt. Die Garde der etablierten Autoren hat, so scheint es bei Durchsicht der Prospekte deutschsprachiger Bühnen für die kommende Spielzeit, Neues nicht zu bieten. Mit einer Ausnahme: Peter Handke meldet sich mit seinem „Untertagblues“ zu Wort, einem Stationendrama. Es ist ein „Wilder Mann“, der diesen Blues singt, ein Volksredner, der in der Untergrundbahn auf die Fahrgäste einredet: „Und schon wieder ihr. Und schon wieder muss ich mit euch zusammen sein. Ihr verdammten Unvermeidlichen.“

Mit dem „Wilden Mann“, so das Wiener Burgtheater, habe Peter Handke eine Figur geschaffen, die die lange Reihe der österreichischen Raunzer von Ferdinand Raimund bis Thomas Bernhard auf eine neue, eigenwillige Art fortsetze. Den Plan, den „Untertagblues“ unter Luc Bondys Regie zu Beginn der Saison herauszubringen, hat die Burg indes kurzfristig verschoben. So fällt die Uraufführung wohl dem Berliner Ensemble zu: Claus Peymann will dort im Juni vorführen, wie sich diese Publikumsbeschimpfung hier auswirken wird.

Boulevard in Hamburg

Auffälliges Merkmal der Saison 2003/ 2004: Autor und Regisseur neuer Stücke erscheinen gern in Personalunion. Beispiele dafür geben René Pollesch, Falk Richter, Igor Bauersima. Pollesch, letzthin vor allem am Prater der Berliner Volksbühne aktiv, greift nunmehr nach Hamburg, Basel, Wien. Sein ehrgeizigstes Projekt dürfte „Splatterboulevard“ sein, eine Gesellschaftskomödie, die am 19. September im Deutschen Schauspielhaus herauskommt, ein turbulentes Spiel um Geld und Liebe, das, wie die Dramaturgie verheißt, „in einem verzweifelten Schreiwettbewerb gipfelt“. Das Theater Basel kündigt seinen Pollesch für den April an: „Bankier B.“, beruhend auf dem authentischen Fall eines Schweizer Hochstaplers, der Gastarbeiter um ihre Ersparnisse gebracht hat; es gelte, den Diskurs unserer spätkapitalistischen Warenwelt in aberwitzigem Tempo herauszubrüllen. Die erste Neuproduktion Polleschs in Österreich soll dann im Juni am Kasino des Burgtheaters folgen: „Ich versuche, mit einem Thema, das mein eigenes Leben betrifft, bei meinen Schauspieler/innen Interesse zu wecken. Was hat das mit unserem Leben zu tun? Wie wollen wir arbeiten? Es ist der Alltag, der im Zentrum steht.“ Ob der Titel dafür, sonderbar redundant, schon das letzte Wort ist? Er lautet: „Ich bin froh, dass jeder Kuss mich daran erinnert, welche Scheiße ich hier lebe, welche Scheiße ich hier erlebe.“

Auch Falk Richter, gleichfalls ein Workaholic, wird an drei Orten inszenieren. Für das Zürcher Schauspielhaus kombiniert er Roland Schimmelpfennigs neues Stück „Für eine bessere Welt“ mit einem eigenen Einakter „Sieben Sekunden“. Reflektiert Schimmelpfennig das Phänomen Krieg, wie es sich immer wieder irgendwo in der Dritten Welt abspielt und im westlichen Bewusstsein spiegelt, so konzentriert sich Richter auf einen US-Bomberpiloten, der im Moment seines Absturzes, sieben Sekunden lang, seinen Lebensfilm vor sich abrollen sieht. Am Bochumer Schauspielhaus folgt, inszeniert vom Intendanten Matthias Hartmann, Richters „Electronic City“, die neoromantische Liebesgeschichte eines Mannes und einer Frau, die im internationalen Business, vom einen Hotel zum anderen Flughafen hetzend, die Orientierung verlieren. An der Berliner Schaubühne, die das Stück in Tom Kühnels Regie nachspielt, wird der Autorregisseur Richter dann auch selber tätig sein: „Das System“ ist der Arbeitstitel dieses Projekts, das, gleichsam im Labor, über mehrere Monate hinweg erarbeitet werden soll.

Für Wiens Akademietheater bereitet Igor Bauersima, in der Dreieinigkeit von Autor, Regisseur und Ausstatter, ein Stück vor, das es eigentlich gar nicht gibt, nämlich eine „Berenice de Moliere“. Sehr wohl freilich hat es Berenice-Stücke von Corneille und Racine gegeben, beide in Paris 1670 im Abstand von acht Tagen uraufgeführt: Tragödien um den Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft am Beispiel des römischen Kaisers Titus und der jüdisch-orientalischen Prinzessin Berenice, eine Verbindung, die am Widerstand des Volkes von Rom gegen die vermeintliche Barbarin scheitert. Der Herzogin von Orleans wird nachgesagt, sie habe die beiden Tragöden beauftragt, den Stoff abzuhandeln, ohne dass sie voneinander wussten (ein Wettstreit, der übrigens mit einem Sieg Racines über Corneille ausging). Was aber wäre, wenn sie auch noch den Komödianten Moliere animiert hätte, seine Sicht der traurigen Geschichte beizutragen? Ob dabei eine Komödie herausgekommen wäre? Es wird bis Februar abzuwarten sein, wie Igor Bauersima diese Fragen beantwortet.

Optimisten in Bochum

Mit jeweils einer Handvoll Novitäten wetteifern mutig Bochums Schauspielhaus und das Schauspiel Hannover. Herausgegriffen seien hier die Beiträge Berliner Autoren. Hannover lässt den Publizisten Mathias Greffrath mit einem Monolog debütieren: „Windows oder: Müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“. Bochum bringt zunächst einen neuen Moritz Rinke, die Manager-Satire „Die Optimisten“ auf Abenteuerreise im Fernen Osten, und darauf den Erstling des 25-jährigen David Lindemann, der, dem Titel „Koala Lumpur“ zum Trotz, in New York spielt – „ein Nachspiel zum 11. September“.

Umso befremdlicher, wie risikoscheu, neue Stücke betreffend, manche großen Häuser sind: Leipzigs Schauspiel macht sich unter der Regie seines Intendanten Wolfgang Engel für einen Schlagerabend „Weiße Rosen aus Athen“ stark, Hamburgs Thalia-Theater kündigt gerade mal eine Fritz-Kater-Novität an, „we are camera“, inszeniert vom Autor selbst, also Armin Petras. Dieser fleißige Theatermacher treibt unter seinen beiden Namen auch anderswo sein Wesen: Dresdens Staatsschauspiel verspricht unter dem Titel „Im Zeichen der Wiedergeburt“ als Montage aus drei Stücken „Szenen aus dem Osten“, Kassels Staatstheater annonciert „Zombie oder Ich will nie wieder so alt werden“. Dasselbe Haus hat den Filmemacher Andres Veiel (Black Box BRD) für ein politisches Projekt gewonnen: „Potzlow, Potzlow über alles“, ausgehend von der Mordtat eines Neonazis in dem brandenburgischen Ort, Gesprächen darüber, Gerichtsprotokollen, Zeitungsberichten. Veiel will aus dem authentischen Material einen fiktiven Monolog aus der Sicht der Schwester des Opfers schöpfen, einen Text, der die bekannten Schablonen über den neuen alten Faschismus der Skinhead-Szene in Frage stellt.

Kissenschlacht in Berlin

Theater als Reflex von Zeitgeschichte: Münchens Bühnen planen solche Momentaufnahmen lokaler Befindlichkeit sehr unterschiedlicher Art. Das Residenztheater lässt Georg Ringsgwandl ein Stück über glänzende Geschäfte der High Society, „Schönheit, Sport und Geldverkehr“, schreiben. Die Kammerspiele dagegen wenden sich dem Rand der Gesellschaft zu: „Ein Junge, der nicht Mehmet heißt“, geschrieben und inszeniert von Peter Kastenmüller, nimmt den Fall eines gerichtsnotorischen türkisch-deutschen Serientäters zum Anlass, eine Geschichte zu erzählen, „wie eine Stadt mobil macht gegen einen unzähmbaren Jungen“. Was Berlins Bühnen angeht, so traut sich das Maxim-Gorki-Theater zu, ein die ganze Stadt betreffendes großes Thema abzuhandeln: „Banken“ lautet der Arbeitstitel dieses Projekts, das Intendant Volker Hesse zum Fall der Bankgesellschaft Berlin erarbeiten will – „mit den Mitteln des Theaters“, wie es vieldeutig heißt.

Zum Schluss der Rundreise durch die deutschsprachige Theaterlandschaft noch ein paar Highlights aus fremden Federn. Neues des Norwegers Jon Fosse ist in Bochum, „Schönes“, und in Zürich, „Der Sohn“, zu erwarten. Die Münchner Kammerspiele adaptieren Alain Robbe-Grillets Drehbuch zu Alain Resnais’ Film „Letztes Jahr in Marienbad“ unter Jossi Wielers Regie. Frank Castorf eignet sich einen anderen prominenten Franzosen an: Louis-Ferdinand Celines Roman „Reise ans Ende der Nacht“, eine Koproduktion des Zürcher Schauspielhauses mit der Berliner Volksbühne. Andrea Breth inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung von Edward Albees „Die Ziege oder Wer ist Sylvia?“ am Wiener Akademietheater, welch selbiges noch einen zweiten Import erstmals in deutscher Sprache zu präsentieren beansprucht: Martin McDonaghs „Der Kissenmann“.

Dieser „Pillowman“ des irischen Autors steht allerdings, gleichfalls als deutschsprachige Erstaufführung, auch auf dem Programm des Deutschen Theaters Berlin; um das Recht der ersten Nacht wird man sich offenbar noch streiten müssen. Eindeutig die Nase vorn hat das Berliner Haus jedoch im Fall von Neil LaButes „Tag der Gnade“, auch dies, wie das Stück des jungen Berliners Lindemann, ein Reflex der Twin-Towers-Katastrophe: Pünktlich am 12. September kommt das Stück des Amerikaners im Deutschen Theater heraus – Hannover, Zürich, Wien haben das Nachsehen.

Günther Grack

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