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© Thilo Rückeis

Zitadelle Spandau: Die Festung ein Fest

Grandios und weitgehend unentdeckt: In der Zitadelle Spandau verbinden sich Kunst, Pop und Geschichte.

Die Flughunde sind los, und steinerne Giganten starren dich an. Hoch von den Zinnen und über Wassern locken sonderbare entblößte Nymphen. Und gegen Abend auch wieder rockende, rappende, swingende Sirenenklänge.

Der Ort ist einer der tollsten in Berlin. Groß, sogar grandios, zugleich voller baulicher und historischer Abgründe – und doch für viele Berliner fast unbekannt, bestenfalls: ein Gerücht. Die Spandauer Zitadelle! Hat dort nicht letztes Jahr Kris Kristofferson gerockt? Ja, die Pop-Konzerte im Sommer. Die gibt es wirklich. Doch Gerüchte kursieren auch bei vielen in- und ausländischen Touristen, deshalb sollte man mindestens diesen einen Rumor sogleich dementieren: In der Zitadelle von Spandau waren kein Albert Speer und kein Rudolf Hess inhaftiert; das legendäre, längst gesprengte NS- Kriegsverbrechergefängnis lag gut zwei Kilometer entfernt.

Berlin kämpft gerade um die Rekonstruktion seiner Geschichte. Hier in der Zitadelle am Rand der Stadt, auf dieser mit vier Bastionen ummauerten Burg- und Palastinsel in der Havel, wirkt sie erstaunlich gegenwärtig. Die riesige Festung, gekrönt von dem über eine Wendeltreppe erkletterbaren Juliusturm aus dem 13. Jahrhundert, ist tatsächlich die einzige Anlage Berlins, die vom Mittelalter über Renaissance, Barock und den Klassizismus des 19. Jahrhunderts einen authentischen Bogen in die Gegenwart schlägt.

Man rauscht in Bussen und PKWs, wie zigtausend Passanten jeden Tag, auf der Strecke zwischen Charlottenburg, Siemensstadt und der Spandauer Altstadt nur zu leicht vorbei an der von dichten Bäumen umsäumten Wasserfestung. Eben noch vielspurige Straßen und modernes Gewerbegebiet, da öffnet sich an der Juliusturm-Brücke eine Schneise, und übers Kopfsteinpflaster führt ein Weg direkt in die Idylle. Freilich eine imposante Idylle: mit den im 16. Jahrhundert von Kurfürst Joachim II. und seinem italienischen Baumeister Chiaramella de Gandino errichteten roten Backsteinwällen und dem später barock geschmückten mächtigen Festungstor.

Doch schon vor dem Tor gibt es jetzt einen verblüffenden Augenfang. Im Wallgraben schwebt eine nackte, spitzbrüstig freche Ephebin als Wassergeist, der den ganzen Pomp der männlich-militärischen Bastion zu verzaubern scheint.

Das ist eine der im Gelände immer wieder witzig und wunderlich verstreuten Bronzeskulpturen des Berliner Bildkünstlers Hans Scheib. Das Kunstamt Spandau, das die mit großer Sorgfalt und erheblichen Mitteln (auch der Bundesregierung und der EU) restaurierte Zitadelle betreut, hat dem gerade 60 gewordenen Scheib in mehreren Bauten, Höfen und offenen Räumen eine Retrospektive aus fast 30 Jahren eingerichtet. Diese Ausstellung unterm Titel „Drachenzähne und anderes“ ist schon für sich ein Ereignis.

Man erkennt das bereits, wenn man nach dem für Konzerte, Vorträge und Archive genutzten spätgotischen „Palas“ nebst Juliusturm den ersten Bereich der archäologischen Ausgrabungsstätten betritt. In einem modernen Hallenbau unterhalb der grasbewachsenen Schanzen am Wasser bietet sich der Blick herab auf Fundamente, Straßenzüge und bis zu tausendjährige Holzbohlen der frühesten Grenzbefestigungen, die einst eine mittelalterliche Handelsstraße Richtung Polen schützen sollten. Plötzlich die Überraschung: eine schmale Frauenfigur mit erhobener Fackel auf einem Wagen, den Hunde mit wild äugenden, spitzohrigen Fledermausköpfen ziehen.

Sie ziehen ihn über glänzende Platten, auf einer in die schrundigen Grabungsmauern gelegten Goldbarrenstraße – ein Ensemble aus Holz und Messing, das Hans Scheib „Vineta, das Goldene Zeitalter“ nennt. Zwar von 1999, doch jetzt wie ein poetischer, geheimnisvoller Kommentar zur Krise. Vineta war das sagenhafte Atlantis der Ostsee, die hochfahrende Verheißung begegnet dem Untergang und dem Untergrund. Wobei ein zweiter Witz in den Zugtieren liegt. Fliegende Hunde, eine südamerikanische Fledermausart, sind nämlich die Attraktion eines weiteren Gebäudetrakts im weitläufigen Areal. Vor allem Schulklassen und Familien mit Kindern können sich in schummrigen Kellerhöhlen und hinter Glas am gruselig komischen Gewese eines veritablen Fledermauszoos erfreuen.

Dagegen nisten die wildlebenden heimischen Fledermäuse in den Kasematten. Die Spandauer Zitadelle ist eines ihrer größten Winterquartiere in Nordeuropa, und wer eine Führung durch die schier unendlich umlaufenden, immerfeuchten Festungsgänge mit ihren Schießscharten und Verliesen macht, erhält eine Ahnung von der Wucht und Spukhaftigkeit der niemals eroberten, einst auch von Napoleons Truppen genutzten Festung.

Sie diente als Kaserne und Gefängnis, hier lagerte der Reichskriegsschatz nach dem Sieg über Frankreich 1871, auch Gefangene waren hier interniert, und zu Hitlers Zeiten residierte das „Heeresgasschutzlaboratorium“ in der Zitadelle, die 1945 aus Angst vor Giftgasexplosionen ohne Kampf der Roten Armee übergeben wurde. Später drehte dann Arthur Brauner, wenn er für seine Edgar-Wallace-Filme neblige Londoner Kanalschächte brauchte, im Untergrund der Zitadelle.

Unter der Leitung von Christiane Theißen ist die Spandauer Festung nun ein mehrschichtiges, noch im Ausbau befindliches Museum für frühe Stadt- und spätere Militärgeschichte. Man sieht aufgereiht die Galerie der jüngst aus dem Kreuzberger Lapidarium überführten marmornen Großplastiken der wilhelminischen „Siegesallee“, es gibt eine Kanonen- und Geschützausstellung, durch die jetzt Hans Scheibs zuerst im Französischen Dom am Gendarmenmarkt gezeigten „Apokalyptischen Reiter“ jagen. Oder man begegnet den anschaulich dargebotenen Überresten des einst im Spandauer Westen gelegenen mittelalterlichen Jüdischen Friedhofs, mit dem ältesten Grabstein Berlins von 1244.

In der Mitte der Zitadelle dominiert nun die Bühne für die nächsten Open-AirKonzerte, Balkan-Gypsie-Brass mit Goran Bregovic & Shantel (7. 7.) sowie Country-Rock mit Calexico, Lucinda Williams und Lambchop (8.7.); später folgen im Juli und August unter anderem noch Konzerte von Marianne Faithfull und Silbermond. Nicht weit von der Musikbühne wartet indes im ehemaligen „Kavaliershaus“ der Hauptteil der Scheib-Ausstellung. Man sieht die Installation der ursprünglich für Georgien und den Ort der Argonautensage entworfenen „Drachenzähne“, dazu sehr erotische Damen aus heutigen Dramen, ein Zyklus virtuoser Kaltnadelzeichnungen, und als Highlight den raumfüllenden „Phaeton“: der aufrecht stürzende Sohn des Sonnengottes mit seinen aus dem Himmelslauf ausbrechenden Pferden – wieder ein tolles Menschen-, Tier- und Göttertheater aus nichts als Holz und großer Kunst.

Zitadelle Spandau: Hans Scheib „Drachenzähne“ bis 30. 8., tägl. 10–17 Uhr. Konzert-Infos www.citadel-music-festival.de und Ticket-Hotline Tel. 030 - 780 99 810.

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