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Kultur: Zu Peter Steins "Faust"-Inszenierung: Die großen Spitzen der kleinen Spießer

Gibt es eine deutsche Leitkultur? Darf es sie geben?

Gibt es eine deutsche Leitkultur? Darf es sie geben? Diese Diskussion über moderne deutsche Identität wurde auf der politischen Bühne zuerst aufgeführt. Aber entschieden wurde sie womöglich im richtigen Theater. (Tsp)

Es gibt Theaterstücke, die über alle Maßen von der Kritik gelobt werden, denen aber die Zuschauer wegbleiben. Und es gibt Stücke, bei denen es sich genau umgekehrt verhält: Die Kritiker verreißen die Inszenierung, aber das Publikum ist begeistert. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist die "Faust"-Inszenierung von Peter Stein. Mittlerweile läuft sein "Faust" lang genug, um mit einigem Abstand zum ersten Schlachtengetümmel Bilanz zu ziehen: Das Publikum, das Kosten und organisatorische Mühen, sich ein ganzes Wochenende freizuhalten, nicht scheut, um sich die Uraufführung des ungestrichenen "Faust" anschauen zu können, ist durchweg bis zum Schluss aufmerksam, gespannt, heiter und hellwach. Während der 21-stündigen Aufführung gibt es einen Zuschauerschwund von etwa zehn Personen. Das Publikum bleibt bei der Stange, es lässt sich ein auf den Gehalt der 12 000 Verse, es spricht in den Pausen über das Gesehene und das zu Erwartende, geht an der Spree spazieren (während der Expo in Hannover war die Pausengestaltung entschieden schwieriger), liest Szenen nach, um dann wieder in die Verse, die Bilder und das Spiel auf der Bühne einzutauchen.

Der Schlussapplaus gilt dem äußerst vitalen Ensemble und einem Regisseur, der es mit seiner Inszenierung immer wieder schafft, die üblichen Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit ein Wochenende lang außer Kraft zu setzen. Die Variabilität der Bühnenräume und -formen erzeugt eine angenehme räumliche Orientierungslosigkeit. Das stundenlange Eintauchen der Zuschauer in die gebundene Rede führt zu einem beinahe meditativen Bann, zu einem Sog, der die Zeit verdichtet und zu einem allgemeinen Enthobenheitsgefühl wesentlich beiträgt.

Die Fragen liegen also auf der Hand: Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen dem fast durchgängigen Publikumserfolg und dem fast ebenso durchgängigen Verriss durch die Kritik? Und was sagt das - jenseits von Steins Faust - über den Zustand der deutschen Kritik und über den herrschenden Zeitgeist und die leitende Kultur aus?

Peter Stein hatte bereits frühzeitig vorhergesagt, dass das Stück verrissen werden würde. Zwar entstand kurz vor der Premiere eine aufgeregte Spannung. Auch die Kritiker konnten eine ängstlich-verhaltene Neugierde nicht unterdrücken: Sollte Steins "Faust" vielleicht doch eine Sensation sein und eine Neuorientierung für das Theater bringen? Aber mit der Premiere in Hannover wurde die Inszenierung fast unisono in allen großen Zeitungen mit Vorwürfen überschüttet.

Was an Gift noch vorrätig war

Natürlich habe Stein keine Neuerung, keine Erlösung des Theaters bieten können, ja, seine Abkehr vom Regie-Theater erwies sich jetzt als fatal - so weit demonstrierten die Kritiker Einhelligkeit. Manches blieb auch paradox: Einserseits habe Stein, indem er weitgehend auf Interpretation verzichtet, das Verständnis eines großen Textes verunmöglicht. Andererseits begrenze er durch die Einsetzung eigener szenischer Mittel die freie Einbildungskraft des Publikums. Nicht einmal die Schauspieler seien in der Lage, etwas dagegen auszurichten, da durch fast alle Akteure hindurch immer der "Dozent Stein" spreche, der sie nur wie "Puppen" benutze, nachdem er sie als "Sprechkulturmaschinen" gedrillt habe.

Daher rühre auch die Humorlosigkeit der Inszenierung, von der nicht der geringste Zauber, nicht die geringste Erotik ausgehe, sondern nur Seelenlosigkeit und Kälte. Auch die bloße Verdopplung der Sprache durch Bilder und die Verdreifachung durch Musik führe zu einem technoid-leblosen Gesamtbild. Überhaupt sei das ganze Unterfangen von Megalomanie, Elitarismus, Hybris und "Größenwahn eines ausgebrannten Regisseurs" geprägt. Dieser, der seine Sponsoren aus Wirtschafts- und Industriekreisen rekrutiere, sei nicht in der Lage, mit seinem Publikum in einen Dialog zu treten. Wie man sieht, hat sich das Gros der Kritik sprachlich keine Fesseln angelegt, sondern mal richtig rausgelassen, was an Gift noch vorrätig wär. Und da man einmal dabei war, machte man bei Peter Stein nicht halt und knöpfte sich gleich den ganzen Goethe vor.

Denn - das habe die Aufführung ja nun zur Genüge bewiesen - Goethes "Faust", bei dem es sich ja eher um ein Epos als um ein Drama handle, sei tatsächlich und ohnehin und sowieso unspielbar, das Stück über weite Strecken hinweg langatmig und unverständlich. Es lohne die Gesamtaufführung also nicht. Wenn sich aber Faust nicht lohnt, was lohnt sich dann, was aus dem deutschen Theater-Fundus soll dann des Spielens noch wert und würdig sein?

Soweit also die abwehrende Phalanx der Kritik nach der Premiere in Hannover. Gegen diese Übermacht sind die wenigen Gegenstimmen in der deutschsprachigen Presse nahezu unhörbar, sie lesen sich beinahe wie eine Bestätigung der Regel durch die Ausnahme. Alles in allem ist diese Rezensionsgeschichte verdächtig homogen: Die Vernichtung einer Aufführung, die unbeschadet dessen trotzdem weiterlebt. Und das - so viel können wir ausschließen - sicher nicht, weil das Stück so leichtgängig wäre, dass es sich das Publikum sozusagen vom Boulevard holte.

Die Gründe, die hinter der breiten Ablehnung von Steins "Faust" durch die deutschsprachige Presse stehen, sind vielfältig. Neben den bereits seit längerem ritualisierten Stein-Kritiker-Fehden, die aus gegenseitigen persönlichen Anwürfen bestehen, lässt sich bei jüngeren Kritikern ein Hang zur Denkmalschändung, zum Vatermord beobachten. Entnervt von den schwärmerischen Reden älterer Theaterenthusiasten über die große Schaubühnenzeit und ihrer Stilisierung zum Goldenen Zeitalter des Theaters, reagieren jüngere Kritiker mit Trotz und Abwehr. Das ist menschlich sicher verständlich, führt aber nicht weiter.

Steins Äußerung über seine Inszenierung, die den "Faust" in seiner Gesamtheit "zeigen", aber ihn nicht interpretieren wolle, ist von der Kritik missverstanden worden. Wie kann Stein, der doch einmal eine Leitfigur war, sich so sehr der Neuorientierung des Theaters, ja überhaupt der Bezugnahme auf die deutsche Theaterlandschaft verweigern, indem er sich dem "Faust"-Stück voller Demut unterordnet. Stein weiß so gut wie seine Kritiker, dass es reines Zeigen nicht gibt, dass jede ästhetische Entscheidung auch eine Interpretation, zumindest eine Gewichtung bedeutet. Aber sein Hauptanliegen besteht darin, erstmalig einem Stück gerecht zu werden, das als "das" deutsche Nationalstück gilt, aber zu etwa zwei Dritteln kaum oder gar nicht bekannt ist. Es gibt für den "Faust" in seiner Gesamtheit keine Bühnentradition, und so ist die Bildersprache auf der Bühne neu erfunden und originär. Als Mann des Theaters reizte es Stein besonders, den "Faust" als Summe des Theaters und seiner theatralischen Mittel zu begreifen und mit Hilfe der variablen Bühnenräume für den Zuschauer erfahrbar zu machen.

Sahen die Kritiker das bloße Zeigenwollen schon im Vorfeld als zu wenig an, so empfanden sie in überwiegender Mehrheit das Gezeigte als überfordernde Zumutung. Natürlich ist es für Theaterkritiker der Tagespresse hart, entgegen ihrem gewohnten schnelleren Seh- und Schreibrhythmus ein gesamtes Wochenende nur mit Zuschauen zu verbringen. Leider scheinen viele darüber hinaus aber weder die Kenntnis des Stücks mitgebracht zu haben, noch die Bereitwilligkeit (von Muße ganz zu schweigen), sich darauf einzulassen. Solche - es waren nicht alle - die die Inszenierung von Anfang bis Ende gesehen haben, brüsten sich mit Heroismus und versuchen, ein atmosphärisches Gesamtbild aus unfreundlichen Einlassfrauen, mangelndem Kaffee, Bratwürsten, zu engen Schuhen und Magenknurren der Nachbarn zu entwickeln. Diese Auflistung eigener Befindlichkeitsstörungen bleibt im Hinblick auf das Stück aussagelos, ist mit Blick auf die Frage nach dem Warum der Kritik jedoch bezeichnend.

Natürlich ist ein Verständnis von Goethes "Faust" nicht leicht zu haben. Zwar gibt es ein ständiges spannungsvolles Changieren zwischen Ernst und ironisch Gebrochenem. Aber vor allem ist das Stück doch stark geprägt durch gedankliche Schärfe und Intellektualität. Und diese erfordert eine Bereitschaft zu Aufmerksamkeit und Konzentration. Der gesamte "Faust" verweigert sich dem leichten Konsum. Stein bezeichnete den "Faust" als ein Meditationsstück, das in langen Stunden fünf große Kreisbewegungen um den Tod herum schlage. Die Zuschauer lassen sich darauf ein und gehen mit auf die große Lebensreise, die Kritiker nicht.

Wenn sonst das Urteil der Kritik und das Urteil des Publikums so sehr auseinander klaffen, dann liegt die Vermutung nahe, der normale Zuschauer folge eben den schnellen Wendungen des Zeitgeistes und suche den leichten Genuss, während der gebildete, distinguierte Kritiker höhere Ansprüche hochhalte und hochhalten müsse. Bei Steins "Faust" verhält es sich offenbar geradewegs umgekehrt. Der gehetzte, am schnellen Konsum und am ebenso schnellen Urteilen interessierte, der mit den Gedanken immer schon bei der übernächsten Ausgabe hängende Kritiker vermag einem langen, schweren, künstlerischen Prozess nicht mehr zu folgen. Er schwebt nicht in anderen Sphären, er rast in einer anderen Umlaufbahn als die Kunst. Das Ungeduldigsein bestimmt das Bewusstsein.

Steins "Faust" gegenüber verharren viele Kritiker bestenfalls in einer misstrauischen Abwehr, einer Abwehr, wie sie im deutschen Theater in den letzten Jahrzehnten prinzipiell so genannten Nationalstücken entgegengebracht wird. Auf der Bühne gehört rituelle Gewalt kanonischen Stücken gegenüber seit längerem zum guten Ton. Dieses pathologische Verhältnis in Deutschland der eigenen Tradition gegenüber ist zwar mit ihrer Vereinnahmung durch die totalitären Systeme erklärbar, führt aber leider im Theater oft zu Antihaltungen, die selbst längst wieder zu Klischees erstarrt sind.

Offenbar lässt sich der übliche Gestus des Protests, der Subversion, des Unkonventionellen wesentlich leichter konsumieren und geneigter kritisieren, als wenn es ein Regisseur wirklich einmal wagt, sich den herrschenden (Protest-) Moden zu widersetzen, sich den Zeitströmungen buchstäblich entgegenzustemmen. Im Aufeinanderprallen von Steins "Faust" und seinen Kritikern zeigt sich, wie konventionell die deutsche Kritik und der deutsche Kritiker, wie er geht und steht, geworden sind.

Der ausländischen Kritik ist diese deutsche Pathologie fremd. Von Warschau bis New York ist die Neugier groß zu sehen, auf welche Weise der gesamte "Faust" erstmalig für das Theater erschlossen wird. Einhellig zollen die Kritiker Peter Stein Anerkennung für das Wagnis des ganzen Unterfangens. Dass es sich mit Goethes "Faust" um "das" deutsche Nationalstück handelt, fordert niemanden zum Spott heraus. Nur weil da mal ein Denkmal steht, muss es nicht zwingend auch sogleich geschändet werden.

Darüber hinaus sind sich die internationalen Rezensenten viel stärker als die deutschen dessen bewusst, dass der "Faust"-Stoff seit der frühen Neuzeit ein mindestens "europäischer" Mythos ist. Natürlich ist auch das Interesse daran eminent, zu sehen, was für ein Verhältnis Peter Stein mit seiner Inszenierung zu den Gründgens-Stereotypen einnimmt. Das Bemühen Steins, das "Faust"-Stück aus einer verheerenden Aufführungstradition zu lösen, sozusagen die abgestandene Luft der Klischees und der Anti-Klischees hinauszublasen, wird von der internationalen Presse mit Beifall quittiert.

Damit eröffnet sich die internationale Kritik eine journalistisch doch sicher reizvolle Perspektive, der sich die deutsche verschließt: nämlich, vor den eigenen Kommentaren der Pflicht zur sachlichen Berichterstattung nachzukommen. In der deutschen Presse wird dagegen die Berichterstattung oft mit selbstverliebter Metaphorik und eitler Rhetorik überfrachtet, so dass man mehr über den Kritiker als über die Aufführung erfährt. Gerade im Zusammenhang mit negativer oder gemischter Kritik könnte sich die deutsche Kritik an der Sachlichkeit der angelsächsischen Tradition orientieren - Sachlichkeit allein schon deswegen, weil es sich mit dem Steinschen "Faust" nicht um eine mediokre Debütinszenierung handelt. Die internationalen Stimmen sind geprägt vom Respekt einem bedeutenden Regisseur gegenüber, der bereits Theatergeschichte geschrieben hat und sich nun auf das "Faust"-Abenteuer einlässt. Neugier und Respekt, das scheint der Kritik nur von draußen schauend zu gelingen.

Sachlichkeit wäre auch schon was

Von drinnen, von Seiten der deutschen Kritik ist das anscheinend unmöglich. Es wäre bedauerlich feststellen zu müssen, dass es in der deutschen Kritik immer noch keine andere Möglichkeit gibt, auf eine verdiente Autorität zu reagieren, als entweder durch buckelndes Gebaren oder durch antiautoritäre Denkmalschändung.

Dabei wäre das nur halb so schlimm, denn es wäre ja das Alte. Beunruhigender ist etwas anderes: Die Unfähigkeit der Kritik etwas wahrzunehmen, das zugleich langsamer und provokativer ist als sie selbst. Und weiterschauend. Schließlich lässt sich gerade Goethe nicht auf Deutsches reduzieren. Er bildet den Schnittpunkt von Welt- und Nationalliteratur. Insofern kennzeichnet die hiesige Kritik an Steins Goethe genau das, was sie Stein vorwirft: Sie ist allzu deutsch. Und ein bisschen spießig.

Es gibt eben doch ein Bedürfnis nach dieser Kunst, nach diesem Stück europäischer deutscher Nationalkultur. Die Kritik ist abgehoben. Peter Stein ist gelandet.

Roswitha Schieb

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