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Kultur: Zug nach Westen

Junges Theater aus Osteuropa: Das „F.I.N.D.“-Festival in der Schaubühne

Im „Orient Express“ ist schwer was los. Ein Herr mit Lippenstift, geklebter Hornbrille und abgegriffenem Stoffhund erzählt nebulöse Geschichten von „Papa“ und bietet den Mitreisenden Kekse an. Im Nachbarabteil traut sich ein Bulgare, endlich schwul zu sein und wird von einem Türken geküsst. Wen es auf den Gang verschlägt, der begegnet einer Gestalt mit Kinderstrickjäckchen und einem Gebiss wie aus dem Scherzartikelladen, die ihren Knieverband vorweist und „wehes Knie in der Magnetresonanzröhre“ sagt.

Der „Orient Express“ war ein Auftragswerk für das eben zu Ende gegangene 6. Festival der internationalen neuen Dramatik (F.I.N.D.) in der Schaubühne: Sechs Autoren, darunter die Serbin Biljana Srbljanovic und der Amerikaner Richard Dresser, steuerten je fünfzehnminütige Einakter bei. Und der Regisseur Enrico Stolzenburg hat das transeuropäische Stationendrama mit Hilfe seiner Bühnenbildner Jan Pappelbaum und Magda Willi in einer Herzigkeit inszeniert, die den ambivalenten Charme eines Kindertheaters versprüht: Die Zuschauer sitzen in nachgebildeten Bahnabteilen, in die bei jedem Halt ein neues Fahrgastschicksal hereinbricht.

Am Fenster rauschen Videoinstallationen vorbei, eine Zugbegleiterin mit Kunstbusen verteilt Kaffee und Bonbons, und ihr Kollege knipst mit einer Lochzange die Eintrittskarten. „Orient Express“ ist das Herzstück des gewohnt enthusiastisch vorbereiteten und tadellos organisierten Festivals: Der Titel dieses „Autorenprojekts“ war Metapher und Motto für das viertägige Programm, das in szenischen Lesungen die junge Theaterwelt aus Budapest, Bukarest, Sofia und Istanbul in den Blickpunkt rückte. In dieser „Bruchzone zwischen dem Westen und dem Orient“ sollte, so die Veranstalter, die Diskussion um die künftige politische und kulturelle EU-Grenze reflektiert werden.

Ein vielversprechendes Unterfangen – in dessen Rückblick man allerdings konstatieren muss, dass Stolzenburg mit seiner Inszenierung leider Recht hatte. Denn viele Ein- und Aussteiger dieses Orient-Expresses blieben von einem „Spannungsfeld“ genauso entfernt wie das pittoreske Szenario, in dem sich ihre Stories entfalten. Merkwürdig deshalb, weil es an Underdogs, Armut, Zwangsprostitution, minderjährigen Strichern und Messerstechereien keineswegs mangelt in den türkischen, rumänischen und bulgarischen Beiträgen. Nur haben die leider nicht selten den Tiefsinn einer mittelmäßigen Zeitungsreportage und den Sprachwitz einer deutschen Telenovela.

So sieht man ungarische Paare, die sich beim Aufbruch gen Westen gegenseitig den Satz: „Du lebst in einer Traumwelt“ an den Kopf werfen. Oder rumänische USA-Reisende, die ihren erwachsenen Kindern offenbaren: „Ich träumte jede Nacht von New York. Dort wollt’ ich aufwachen, in dieser Stadt, die niemals schläft. Denn mein Land schlief immer.“ Ihre jüngeren Landsleute versinken unterdessen nach so vorhersehbarer Rezeptur in einem westlichen Gewalt- und Pornosumpf, dass der Zuschauer ausschließlich mit dem Warten auf jene dramatischen Wendepunkte beschäftigt ist, die man ohnehin voraussehen kann.

Kurz: Wer nicht bereit ist, das Milieu dieser Stücke als Politikum zu akzeptieren, tut gut daran, sich vom Festivalschwerpunkt ab- und Stücken wie „III“ des Franzosen Philippe Malone zuzuwenden: Hier wird King Richard III. zum gelangweilten Wirtschaftsmogul, der ins fatale Netz von wirtschaftlicher Abhängigkeit, (Sexual-)Neurose und menschlicher Verkaufsnot blicken lässt. Oder „Stoning Mary“: So klug und sprachsicher, wie die Engländerin Debbie Tucker Green hier die Geschichten eines Kindersoldaten, einer jungen Frau, die gesteinigt werden soll und zweier Aidskranker ineinander flicht, entsteht eine universelle Gesellschaft am Existenzminimum.

Als britischer Gastspieler trat Mark Ravenhill auf, mit dessen Stück „Shoppen und Ficken“ dem Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier in Baracken-Zeiten der Durchbruch gelungen war. In „Product“ gibt Ravenhill sein Schauspieldebüt und versucht als angeschwuchtelter Filmbranchen-Fiesling, ein Starlet von einem finsteren Machwerk titels „Mohammed and Me“ zu überzeugen. Die hanebüchene Hollywood-Story aus Gebetsteppichen, Terroristen-Folklore, Liebestriefstory und versuchter Disneyland-Paris-Sprengung, die er abendfüllend entwirft, ist zwar bisweilen witzig, aber schnell erschöpft und mitnichten bahnbrechend doppelbödig. Ein Late-Night-Special wie ein Absacker, der doch eigentlich mehr sein wollte.

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