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Innenleben, Außenansicht. Die Fliehkraft des Reisens. Foto: sodapix / vario images

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Zuggeschichten: Abfahrt Südkreuz

Menschen im Zug leben in ihrer eigenen kleinen Welt: "Geschichten aus dem Speisewagen". Eine Collage von Torsten Körner

Ich gebe zu – es ist viele Jahre her –, dass ich, wenn ich in den Zug einstieg, so lange durch die Wagons wanderte, bis ich mich neben, vor oder hinter ein anziehendes Mädchen setzen konnte. Dann versuchte ich herauszufinden, was sie las, ob sie meine Blicke erwiderte und Lust auf ein Gespräch hatte. Manches Mal, wenn mir ein Mädchen gegenübersaß, das mir gefiel, fand ich nicht das richtige Wort. Rückblickend würde ich sagen, man denkt viel zu lange über das richtige erste Wort, den richtigen ersten Satz nach. Die Strecke ist wichtig, nicht der Start.

Im Speisewagen schaufelt ein Mann Löffel um Löffel Zucker in seinen Kaffee. Die Ohren sind fleischig, die Haare grau und so dicht, als ob er einen Helm trüge. Während er telefoniert, malt er mit dem Kugelschreiber Arabesken auf seinen Notizblock. Ein Satz bleibt bei mir hängen: „Für mich wäre es wichtig, die Wettkampfzeiten von der Kleinen zu wissen!“ Ein anderer Satz, ein anderer Mann, Schnauzbart, Ohrring, lichtes Haar und Jeans: „Wir müssen endlich zu vorzeigbaren Ergebnissen kommen!“ Ein dritter Mann isst Gulaschsuppe und telefoniert dabei. Er sagt anklagend, fast verzweifelnd: „Aber warum kommunizieren Sie das dann nicht? Wir arbeiten jetzt zwei Jahre zusammen und dann so was! Mein Akku ist gleich alle, wir müssen jetzt hier eine Entscheidung treffen … Hallo? … Hallo?“

Ich komme gar nicht so gerne an, viel lieber bin ich unterwegs. Ich sitze gerne im rasenden Dazwischen, die Landschaft und mein Leben ziehen wie ein Film an mir vorüber. Das Drinnen und Draußen verbindet sich zu einem Bild, das so lebendig und voller Tiefe ist, dass ich glaube, ich könnte hineinspringen, darin umherwandern und die merkwürdigsten Abenteuer erleben.

Alte Ehepaare machen nicht viele Worte. „Schau mal, wie die Kühe beieinander stehen, die verdauen!“ Er ist groß, gut und modisch gekleidet. Seine Frau, sehr gepflegt, schmuckbeladen, hat ein Leben lang auf ihn geachtet. Es geht ihnen gut. Sie fahren jetzt nach Sylt oder zu ihren Kindern, oder sie kehren gerade von einem Wochenende in Berlin zurück. Ihre Plätze sind in der 1. Klasse. „Die Kühe“, sagt sie und schaut aus dem Fenster, „frühstücken wie wir.“ –„ Wiederkäuer!“, sagt er und „Vier Mägen!“ Er schließt jeden Satz mit einem Ausrufezeichen. Als die Kellnerin kommt, fragt er, ob da draußen noch die ehemalige DDR sei. Die Kellnerin wendet sich an die vorbeikommende Schaffnerin. Sie weiß es auch nicht. „Man kann es nicht mehr sehen“, sagt sie und schüttelt verwundert den Kopf. Der Mann seufzt. „Den Kühen wird es egal sein!“ – „Was?“ – „Ob sie in der Ehemaligen liegen oder nicht!“

Etwas abseits sitzen drei Frauen um die sechzig, die ohne ihre Männer unterwegs und gewillt sind, sich zu amüsieren. Sie haben Sekt bestellt. Sie sind kess, munter, lebenshungrig. Sie haben geheiratet, Kinder bekommen, sie haben manches erduldet und sich dennoch nicht scheiden lassen, ihre Häuser sind abbezahlt und jetzt ist es an der Zeit, eigene Wege zu gehen, bevor das Licht ausgeht. Sie tragen Hosen und Blusen, die ihre Figur betonten, sie können sich sehen lassen. Sie gehören zu der Generation, die den Körper als immerwährende Baustelle entdeckt hat. Man muss kämpfen. Aber jetzt erst mal was Prickelndes.

Ist das hier 2. Klasse?“, kräht der Junge. – „Ja!“, gibt der Vater knapp zur Antwort. „Geil, dann bin ich jetzt ein Zweitklässler!“ Der Vater knufft den Jungen in die Seite. Der Zug bebt, fährt an, schiebt den Abend vor sich her. Die Vororte bleiben zurück. Das Tempo ist noch verhalten. Ein Mann hisst in seinem Kleingarten eine „Schalke“-Fahne, ein anderer riecht an einem abgeschnittenen Zweig.

Die Landschaft, die die Menschen links liegen lässt

– Baumstämme auf einem Güterzug wie Spargelstangen gebunden

- die gummibehosten Angler, reglos wie Reiher, die in der Saale stehen

– der Hund zwischen zwei Paddeln, die träge ins Wasser tauchen

– die gesprühten Testamente der Nacht

– das menschenleer-moosige Freibad im Sommer

– ein lustloser Regen über trockenem Land

– die Heuballen, in weißes Plastik gewickelt

– Düsenjäger, die den blanken Himmel zerkratzen

– die Gartenparadiese ohne Adam und Eva

Die beiden Stewards haben einen Augenblick Zeit. Alle sind versorgt. Die Gäste essen, schauen zum Fenster hinaus, lesen. Sie bedient am Bistro- Tresen, er versorgt den Speisewagen. „Hast du schon deine Dienstpläne? Ich hab wieder eine Nachtschicht. Ich hab so was von keine Lust drauf. Ich mach das zum letzten Mal. Du fährst um zwölf Uhr nachts los und kommst dann um 5.45 Uhr in Köln-Bonn Flughafen an. Da bist du schon kaputt. Dann hast du eine kurze Pause und fährst um 6.15 Uhr auf einem vollen Pendlerzug zurück. Und alle wollen, dass du lächelst und freundlich bist. Das kannst du vergessen. Ich bin doch keine Schauspielerin, ich will mich doch nicht verstellen, das bin ich doch nicht, so ein Grinsemonster.!

Im neuen Berliner Hauptbahnhof kann man reisen, ohne einen Zug zu besteigen. Wenn man ihn betritt, spürt man sofort die vertikalen und horizontalen Fliehkräfte, die an der eigenen Biographie zerren. Bleiben oder gehen? Der Koloss aus Stahl, Glas und Beton ist eine vielfach verschachtelte Bühne, ein Theater, das die Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum verwischt. Mal beobachtet man, mal wird man beobachtet, man fährt ab, kommt an, holt ab, kehrt heim, bricht auf, man hofft, zittert, freut sich oder man trauert etwas nach. Der Hauptbahnhof pumpt frisches Leben in die Adern der Stadt, er tauscht und wechselt aus, er entlässt, schickt fort, er saugt ein und spuckt aus, er zieht an und stößt ab, er ist eine urbane Herz-Lungen-Maschine.

Die alte Frau fragte mich: „Wussten Sie, dass den Juden die Benutzung des Speisewagens ab 1939 verboten war?“

Die junge Frau bestellt ein Fläschchen Sekt. Rotkäppchen. Sie trägt eine sorgsam zerrissene, geflickte und gebleichte Jeans, dazu einen gelben Kapuzenpullover. An jedem Daumen einen Silberring. Noch bevor ihr Sekt kommt, greift sie zum Handy. „Hallo, Mama? Ich bin’s. Stell dir vor, alles in Ordnung. Nein, nichts gefunden. Und ich sah mich schon auf der Krebsstation. – Ja, ich dachte, ich bin so gut wie tot. – Nein, absolut harmlos, der Arzt hat gleich gesagt: ,Machen Sie sich keine Sorgen’. Das erzähle ich dir alles heute Abend. – Genau, Papa ist auch da, schön. Ich freu mich.“

Hallo! Ich bin’s! – Wie ist der Stand? – Ist das sicher? – Fritz soll mal nicht so die Backen aufblasen … – Okay … – Und Giga? – Ich muss das jetzt vom Tisch haben … – Ich muss meinen Fokus woanders setzen.. – Das müssen wir deblockieren… – Ich setz mir eine Deadline von zwei Tagen...

Je länger ich durchs Land fahre, desto unwahrscheinlicher kommt mir alles vor. Der Zug ist eine riesige Mühle, die alles zermahlt. Meins, deins, alles. Auf langen Strecken macht einen der Anblick der Schicksale besoffen. Man kann nicht lange hinausschauen. Jedes Haus, jeder Garten, jedes Auto vollgestopft mit Leben.

Die Wespen sterben jetzt süße Tode in klebriger Verzweiflung. Später August. Die Urlauber kehren mit sonnenverbrannten Gesichtern zurück, schwere Koffer stehen in den Gängen, die Tage werden kürzer, die Blätter müde, die Erwartungen sind kleinlaut geworden. Die Wolken ziehen an diesem Abend über den Himmel wie eine Büffelherde in einem schwarzweißen Western. Die Klimaanlage hüllt den Speisewagen in kühle Gleichmut gegen die abklingende Hitze des Tages. Ein Paar, das an einem Tisch vor mir sitzt, steckt fest. Sie schweigen. Sie wissen nicht, wie sie das Aufhören beginnen sollen. Sie trinken Wein. Sie halten sich an den Händen. Er sagt: „Es war eine lange Zeit!“

Im Hamburger Bahnhof glüht das Leben aus. Jetzt sieht man die Gestrandeten und Gestrauchelten deutlicher, die sich tagsüber in der Menschenmasse verlieren. Eine Frau, deren Alter kaum zu definieren ist, steht vor einer Telefonzelle und machte Kniebeugen in Zeitlupe, ab und zu lässt sie ein unheimliches Brummen hören, ein Mann läuft durch die Wandelhalle und schlägt sich die Fäuste gegen den Kopf. Der letzte Zug nach Berlin ist fast menschenleer. Als ich am Bahnhof Berlin-Südkreuz aussteige, bin ich der letzte Fahrgast. Die Rolltreppe läuft an. Sie ächzt und stöhnt noch genauso infernalisch wie am frühen Morgen, als ich losgefahren war. Die Nacht ist da.

Torsten Körner lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin. Aus seinem nun erscheinenden Buch „Geschichten aus dem Speisewagen. Unterwegs in Deutschland“ (Scherz-Verlag, Frankfurt/M., 384 S., 18,95 €) haben wir mit freundlicher Genehmigung des Autors diese Collage erstellt.

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