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Kultur: Zukunft is nich

Ghettokids, Globetrotter und Blindflieger in der PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

Sie sind Königinnen in ihrem Kiez. Und gelten nichts darüber hinaus. Wenn’s darum geht, sommers ins Prinzenbad zu gehen oder abends noch mal mit Freunden raus, wird geschminkt und gestylt wie für den Catwalk. Lange blonde Haare, dick Kajal, Schmuck in Mengen, beim Gehen herausfordernd die Hüften gewiegt, blondes Gift. Doch die Schule wurde abgebrochen, wegen Straftaten droht Sozialdienst, und was aus dem Leben mal werden soll, welcher Job, welche Vision, da herrscht absolut Ratlosigkeit. „Was mir Spaß macht? Eigentlich nichts.“

Mädchen von heute, diese drei Berliner Teenager Klara, Mina und Tanutscha, die Bettina Blümner in ihrer Dokumentation „Prinzessinnenbad“ ein Jahr begleitet hat. Ein Kiezbericht, alltägliches Leben zwischen türkischen und deutschen Freunden, Kleinkriminalität und den Forderungen, die die zumeist alleinerziehenden, sehr verständnisvollen Mütter stellen. Maja Classen zeigt in ihrer Dokumentation „Osdorf“ das Gegenbild dazu, Jugendliche aus Migrantenfamilien im Hamburger Stadtteil Osdorfer Born. Da geht es schon härter zu, fast alle Jungs sind schon straffällig, Gewalt und Kriminalität gehören zum Leben, und auch ein Besuch im Knast macht die harten Ghetto-Kids zwar nachdenklich, weil sie ahnen, das droht auch ihnen, doch ändern wird es nichts. Das weiß man schon jetzt.

So realistisch, so pessimistisch wie noch nie präsentiert sich die Perspektive Deutsches Kino im sechsten Jahr. Vier von zwölf Filmen sind Dokumentarfilme, sieben von zwölf beschäftigen sich im weiteren Sinne mit Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität, Kinderarmut und Hartz IV. Einen fünften Dokumentarfilm, „Full Metal Village“ von Sung Hyong Cho, der Bericht über die norddeutsche Kleinstadt Wacken, die einmal im Jahr zum Schauplatz eines Heavy-Metal-Festivals wird, hatte man aus Kapazitätsgründen abgelehnt. Er gewann dafür im Januar den Marcel-Ophüls-Preis auf dem Filmfest von Saarbrücken und wird als Special Guest am letzten Berlinale-Tag, dem Publikumstag, gezeigt.

Mag sein, dass sie besonders nah an der Wirklichkeit dran sind, die Absolventen von Filmhochschulen, die Alfred Holighaus und sein Team für ihr Programm ausgewählt haben. Astrid Schult, die mit „Zirkus is nich“ den vielleicht eindrucksvollsten Beitrag des Jahrgangs liefert, gibt es offen zu: Die vielen Reportagen, Dokumentationen und Berichte über verwahrloste Kinder in den Medien haben sie geärgert. Weil sie zumeist das Gefühl hatte, dass die eigentlichen Leidtragenden, die Kinder, dabei zu kurz kämen. So konzentriert sie sich in ihrem 43-Minuten-Film ganz auf den achtjährigen Dominik aus Berlin-Hellersdorf. Die Mutter, arbeitslos, ist mit ihren drei Kindern überfordert, der Vater abwesend, und er, der Älteste, übernimmt die Sorge für die dreijährige Schwester. Eine Gratwanderung, diesen Knirps mit der Kamera zu begleiten, seine Machoallüren, die Selbstgefälligkeit, mit der er in der Rolle des Familienoberhaupts posiert – und die unglaubliche Verletzlichkeit, die dahinter zum Vorschein kommt. Dass ihm sein großer Traum, ein Zirkusbesuch, verwehrt bleibt, das ist: eine richtige Tragödie.

Dass es so oft Regisseurinnen sind, die sich auf die harte Wirklichkeit eingelassen haben – ein Zufall? Insgesamt kann die Perspektive in diesem Jahr mit einer Rekordquote von zwei Drittel Frauen auf dem Regiestuhl aufwarten. „Wir haben keinen abgelehnt, weil er ein Mann gewesen wäre“, so das Auswahlteams. Und doch: „Ein Trend, den wir liebend gern auch in Zukunft unterstützen würden“, erklärt Berlinale-Chef Dieter Kosslick, der im Wettbewerb nur zwei Regisseurinnen dabeihat. Gerade bei den Kurzfilmen wird zwar noch wild experimentiert: Claudia Lehmann schickt in „Memoryeffekt“ eine junge Frau den Erinnerungen ihres transplantierten Herzens hinterher, Ileana Cosmovici lässt am „Aschermittwoch“ zwei verlorenen Seelen aufeinandertreffen, Hannah Schweier lehrt einen Boxer das „Aufrecht-Stehen“. Angst vor großen Themen hat hier niemand.

Wenn überhaupt etwas zu bemängeln wäre, dann vielleicht, dass der Humor, die Leichtigkeit zu kurz kommen dieses Jahr. Probleme, Probleme, Probleme, viel Kampf ums Überleben, doch wenige Überlebenskünstler. Auch die Globetrotter, die sich in Sonja Heiss’ „Hotel Very Welcome“ in Asien zusammenfinden, sind nicht wirklich in Ferienstimmung – und bringen das Elend, vor dem sie flüchten, mit. Lotte (Barbara Philipp) in Ben von Grafensteins „Blindflug“ kommt gar nicht erst so weit: wollte sich einige Tage Auszeit nehmen vom allzu fordernden Lebenspartner und nach Südafrika fliegen: Prompt sitzen alle am Flughafen fest und verkämpfen sich eine Nacht lang im Gewirr der Beziehungsfragen. Und die beiden Teenies Carla (Paula Kalenberg) und Lucie (Marie Luise Schramm) in Julia von Heinz’ „Was am Ende zählt“ mögen zwar ein altes Schiff gemeinsam renovieren. Doch auf weite Fahrt werden sie niemals gehen: Schnell ist ein Kind da und mit ihm Probleme, Probleme, Probleme.

Nur einer hat genügend Energie zum Ausbruch: Loser-Spezialist Milan Peschel als daueralkoholisierter Bauunternehmer Domühl in Pepe Planitzers herausragendem Beitrag „AlleAlle“. Domühl haust in einem ehemaligen russischen Militärstützpunkt in Brandenburg, und plötzlich läuft ihm Hagen (Eberhard Kirchberg) zu, und Hagen ist anders, langsam, autistisch. Mit ihm und Ina (Marie Gruber), einer auf Bewährung entlassenen Mörderin, entsteht eine erst unwillige, dann innige Ménage-à-trois: Sie haben alle nichts mehr zu verlieren, aber: „Wer nichts mehr hat, kann alles geben.“ Ein Motto für die ganze Perspektive.

Christina Tilmann

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