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Kultur: Zukunft wird aus Mut gemacht

In Prora auf Rügen, ehemals Hitlers Volksseebad, trafen sich fast 15000 Jugendliche zur erbaulichen Sommerfrische mit Politikern, Bischöfen und einem Model

Grönemeyer kommt nicht. Eine kurze Enttäuschung steht dem „Prora 03“-Besucher im Gesicht, dann wird es wieder taghell: „Und die Vorlesung?“ – Das Organisationsbüro des größten deutschen Jugendtreffens auf Rügen hat in über einhundert Räumen und auf zwölf Bühnen über vierzig Konzerte, dreißig Theatervorstellungen, Nachtgottesdienste, Strandkino non stop, Haupt- und Nebendebatten organisiert, überhaupt alles, was ein richtiges Rügen-Woodstock braucht, aber eine Vorlesung? – „Na Mensch, die SPD-Vorlesung. Die SPD soll doch hier aus ,Mein Kampf‘ vorlesen!“

Prora ist Hitler – Hitler ist Prora? Bis 1936 gab es überhaupt keinen Ort, der so hieß. Streng genommen, gab es hier überhaupt nichts, nur Düne, Stranddistel und Kuhschelle, die „Schmale Heide“ eben zwischen Ostsee und dem Kleinen Jasmunder Bodden. Und dann kam „Kraft durch Freude“, die Tourismusabteilung des „Deutschen Arbeitsdienstes“ und visionierte anstelle der „Schmalen Heide“ hier ein „Seebad der Zwanzigtausend“. Prora, die vorweggenommene Apokalypse des Massentourismus. Wie eine Kriegserklärung ans Meer steht das Bauwerk da, nicht ganz so lang wie die Berliner Mauer, aber immerhin: fast fünf Kilometer. Und genauso grau. Obwohl diese Monstrosität quasidemokratischen Ursprungs ist: alle zwanzigtausend sollten Seeblick haben. Was für ein Ort! Vielleicht genau der richtige, um die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns eine einzige Großbotschaft hören zu lassen: Der Nabel der Welt ist gar nicht anderswo, wie all die Weggeher glauben. Er ist hier. „Mit Nadja Auermann und einigen Bischöfen“, wie die Veranstalter formulierten. Mit Rau und Frau, Thierse, Ringstorff und Merkel. Rettet den Norden!

Hat sich Hitlers Vision im August 2003 also doch noch erfüllt: das Seebad der Zwanzigtausend, zum allerersten Mal. Denn der große Diktator hatte Prora bei Kriegsausbruch 1939 unvollendet stehen lassen. Kann sein, ein wenig anders hatte er sich das vorgestellt. Viele Tausende bunter Zelte umzingeln die traurig-gespenstischen, fensterlosen Mauern. Das Seebad, der, nun gut, vielleicht nicht ganz zwanzigtausend. Aber immerhin fast fünfzehntausend.

Übers Meer fliegt ein kleines Flugzeug mit einem viel zu großen Spruchband hinten dran: „Existenzgründung in Mecklenburg Vorpommern. Einfach anfangen!“ – Es klingt wie der Aufruf zu einer Verzweiflungstat. Die nachmittagsträgen, gutbürgerlichen (West-)Urlauber im Seebad Binz nebenan lesen ihn anders als die in Prora. Sie hören auch ganz andere Musik. Ende der Achtzigerjahre hatte der Mecklenburger Dieter Schumann den einzigen Rockmusik-Report der DDR gedreht. „Flüstern & Schreien“ war bis zu Wim Wenders’ „Buena Vista Social Club“ der erfolgreichste Dokumentarfilm im (gesamt)deutschen Kino. In „Flüstern & Schreien“ sieht man junge Männer am Strand zu den harten, schnellen „Feeling b“-Akkorden Pogo tanzen. Jeden hatte Schumann damals gefragt, was er arbeitet. Punks nach ihrer Arbeit fragen! Heute wäre die Frage anders indiskret, gerade in Mecklenburg. Und aus „Feeling b“ ist längst „Rammstein“ geworden. Jetzt zeigt Schumann in Prora seinen neuen Dokumentarfilm über das Weggehen (seines Sohnes) aus Mecklenburg und das (eigene) Dableiben. Aber die Beats von draußen überdröhnen alles. Es sind sehr viele Rammsteins nachgewachsen inzwischen. Sie spielen auf allen Bühnen, lauter schwarze Musikmessen. Ist das nun ganz rechts oder ganz links? Aber wenn man schon meint, die härtesten Atavisten ausgemacht zu haben, hört man plötzlich den Refrain „Ich will dich wiedersehen“. Der letzte Rest von Ironie, den „Feeling b“ noch hatte, ist weg. Ob Rau und Thierse diese Musik verstanden haben? Die Mädchen singen inzwischen Nena: „Zukunft wird aus Mut gemacht/denk nicht lange nach...“ Ungefähr die Botschaft von Thierse und Rau.

Denn normalerweise ist hier längst wieder alles wie vor 1936. Also vor allem nichts, Kuhschelle und Strandhafer. Und das schon, seit vor über zehn Jahren die NVA der DDR aus Prora auszog. Hitler befahl einst den Bau von Prora, weil die Arbeiter ausreichenden Urlaub bekommen sollten: „Ich wünsche das, weil ich ein nervenstarkes Volk will...“ Der Grund, der zu „Prora 03“ führte, muss ein ganz ähnlicher gewesen sein. Die Nerven behalten! Denn wenn alles so weitergeht, wird ganz Mecklenburg-Vorpommern bald sein wie Prora, blühende Landschaft, Kuhschelle und Strandhafer. Aber bis dahin gilt es, die Nerven zu behalten. Bis dahin machen wir noch ein riesiges Fass auf! Prora lebt. Prora bebt. Und man weiß nicht recht, ob die Ostseewellen gerade natürlichen oder akustischen Ursprungs sind. Vielleicht war das der einzige Sinn von „Prora 03“: eine ungeheure Energieentladung zu provozieren. Auch wenn „Nadja Auermann und einige Bischöfe“ Sinn doch anders definiert hatten. Prora ist der Nachweis, dass, wo eben noch nichts war, plötzlich etwas sein kann.

Und dann wurde es Mitternacht, Hitler-Zeit. Die Lagerfeuer am Strand brannten gegen den Wind. In Haus zehn, Raum 160, stand ein schmaler junger Mann, halb tapferes Schneiderlein, halb Seminarleiter und las mutig Adolf Hitler. Er habe den Text etwas bearbeitet, er wäre sonst zu langweilig, sagte er. Er war immer noch langweilig. Hitler ist der ultimative Energieabfall. Seltsamerweise beachtete keiner die Stelle, wo Hitler so maßlos enttäuscht ist, dass die Wiener Akademie ihn nicht wollte als Kunstmaler-Azubi. Noch einer, der keine Lehrstelle bekommen hat.

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