zum Hauptinhalt
Ich lese dich. Das Buchmessen-Gastland Brasilien gestaltete seinen Pavillon mit ganz viel Gefühl.

© dpa

Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse: Intimität und Identität

Uwe Wesel schimpft, Helene Hegemann bleibt locker, Martin Walser charmiert und selbst Boris Becker hat eine Schamgrenze. Ein Rückblick auf die 65. Frankfurter Buchmesse.

Es ist Freitag, kurz nach 18 Uhr. Das bedeutet nach einem langen Buchmessentag: vom Messegelände schnell hinüber auf die andere Straßenseite in den Hessischen Hof, zum Empfang des C. H. Beck Verlags. Ein traditioneller Termin mit traditionell mäßigen Häppchen, „immer am gleichen Tag, zur gleichen Uhrzeit, im gleichen Ambiente“, wie es Verlagsleiter Wolfgang Beck in seiner gleichfalls traditionellen Ansprache sagt. Dieses Mal aber sei alles ein bisschen anders: „Der Verlag gestattet sich, sich selbst zu thematisieren.“ Anlass: der 250. Geburtstag des Münchner Verlages, der sich seit seiner Gründung 1763 in Nördlingen in Familienbesitz befindet.

Die zweibändige Geschichte des C. H. Beck Verlags wird vorgestellt, verfasst vom Rechtshistoriker Uwe Wesel, der für die rechtswissenschaftliche Ausgabe zuständig war, und dem Althistoriker Stefan Rebenich, der sich um den kulturwissenschaftlichen Verlag kümmerte. Dass es mehr als nur „ein bisschen anders“ zugehen würde, darauf weist womöglich schon die Rede des zehn Jahre älteren Bruders von Wolfgang Beck hin. Der 81 Jahre alte Hans Dieter Beck, der das Verlagsprogramm in den Bereichen Recht, Steuern und Wirtschaft verantwortet, stellt insbesondere Uwe Wesel vor und erwähnt dabei, dass er nicht zuletzt deshalb Jura studiert habe, weil die Professoren in diesem Fachbereich viel besser hätten reden können als die Germanisten.

Tatsächlich ist seine Rede viel besser und unterhaltsamer als die seines Bruders. Vielleicht ist Hans Dieter Becks Auftritt mitsamt der Tatsache, dass zwei Autoren für die Verlagsgeschichte engagiert wurden, ein Hinweis darauf, dass es in puncto Verlagsgeschichte und Jubiläum brüderlichen Zwist gegeben hat.

Ganz offen äußert sich Uwe Wesel. Ihm passt Rebenichs Lesart nicht, dass sich der Verlag damals unter Heinrich Beck mitschuldig an den Verbrechen der Nationalsozialisten gemacht habe. 1933 war der jüdische Verleger Otto Liebmann von den Nazis in Berlin zum Verkauf seines juristischen Verlags gezwungen worden, Heinrich Beck stand als Käufer parat. In Folge wurde der C. H. Beck Verlag zum größten juristischen Fachverlag in Deutschland. Rebenich bezeichnet diesen Kauf als „Arisierung“ und Heinrich Beck als „stillen Teilhaber“ des NS-Regimes – eine Lesart, die Wesel an diesem Abend seltsam empört zurückweist. Im juristischen Sinn sei Beck bei der Entnazifizierung nicht einmal als „minderbelastet“ einzustufen gewesen, so Wesel. Auch Liebmanns Existenz habe er nicht vernichtet, der Preis, den Beck zahlte, sei ein angemessener gewesen. Rebenich hält sich mit scharfen Kontern zurück. Trotzdem ist man irritiert: ausgerechnet hier solche Misstöne!

So spektakulär ist es sonst nicht zugegangen auf dieser 65. Frankfurter Buchmesse. Man könnte sie als langweilige Ausgabe bezeichnen, so wenig Aufreger gab es. Boris Beckers Auftritt am Donnerstag und ein Satz von ihm wie: „Auch ich habe eine Schamgrenze. Auch ich habe Sensibilität“? Nein. Die Wahl von Terézia Mora als Deutsche Buchpreisgewinnerin? Sehr ordentlich. Das Gastland Brasilien? Das war vor allem mit sich selbst beschäftigt. Das Gastland 2014, Finnland? Nein, auch nicht. Trotz Mumins-Lollis, trotz viel beschworener „Coolness“, trotz hundert angestrebter Übersetzungen ins Deutsche fürs kommende Jahr. Und das Buch, dass einen heftigen Bieterkampf unter deutschen Verlagen ausgelöst hat: die Familiengeschichte der ehemaligen Chefin des Berlin Verlags und von Hanser Berlin, Elisabeth Ruge? Na ja, vielleicht. Von 300 000 Euro für die Rechte war gerüchtweise die Rede – für ein Buch, das nicht zwangsläufig ein Bestseller werden muss.

Und die Digitalisierung? Nein, auch sie war kein wirkliches Aufregerthema. Sie wird in der Branche mal grummelig, mal gut gelaunt integriert. Hans Dieter Beck spricht zwar von „diesem Problem mit den Neuen Medien, das uns so bedenklich stimmt“. Weist zugleich aber darauf hin, dass man keine Zukunftsangst kenne und der C. H. Beck Verlag floriere. Auch Hans-Peter Übleis, Geschäftsführer von Droemer/Knaur, ist gewohnt optimistisch. Im Frankfurter Hof berichtet er, dass sein Verlag zehn Prozent seiner Umsätze digital mache, in der Belletristik gar schon 13, 14 Prozent. Vermutlich werde man in zwei, drei Jahren US-Verhältnisse haben und E-Books mit einem Anteil von 40 Prozent am Gesamtumsatz verkaufen.

Während in den Hallen 4.0 und 4.2 emsig die digitale „Geschäftsmodellentwicklung“, die „E-Book-Selbstvermarktung“ oder das „Lesen in der Cloud“ diskutiert werden, ist die Buchmesse in Halle 3 und 4.1 mit ihren Schriftsteller-Gesprächen und Lesungen eine zutiefst analoge Veranstaltung. Thomas Glavinic wirkt im Vergleich zu seinen nächtlichen Auftritten immer erstaunlich frisch und geordnet. Am 3-sat-Stand weiß er: „Wir können unserem Charakter nicht entkommen. Niemand kann ein anderer werden.“ Und bemerkt rechtzeitig, wohin es ihn trägt: „Bevor ich hier so Paulo-Coelho-mäßig draufkomme – können wir nicht das Thema wechseln?“

Als Überraschungsgast schaut Günter Grass vorbei.

Ich lese dich. Das Buchmessen-Gastland Brasilien gestaltete seinen Pavillon mit ganz viel Gefühl.
Ich lese dich. Das Buchmessen-Gastland Brasilien gestaltete seinen Pavillon mit ganz viel Gefühl.

© dpa

Clemens Meyer hat dagegen nach fünf Messetagen schon etwas leicht Zersaustes. Er sitzt vormittags im Paschen Salon in der Halle 4.1 und erzählt mit heiserer Stimme die Geschichte von der Entstehung seines Romans „Im Stein“. Und dann bricht es aus ihm heraus: „Ich verlange verdammt noch mal von jedem Autor, der hier auf den Sofas sitzt, dass es ihm um Kunst und Literatur geht!“ Wovon Meyer nicht spricht: dass er aus dem Leipziger Rotlichtmilieu nicht nur positives Feedback für sein Buch bekommen hat und gewissermaßen unter verschärfter Beobachtung steht. Zu viele Kamerateams waren zuletzt auf den Spuren Meyers vor Ort, und das ist nicht gut fürs Geschäft mit dem Sex. Verglichen mit Meyer ist Helene Hegemann sehr entspannt und erzählt immer wieder, dass sie mit 14 Jahren deutsche Meisterin im Hip-Hop-Tanz gewesen sei und damals eigentlich Musical-Star werden wollte. Jetzt ist sie Schriftstellerin, „jetzt muss ich mich die ganze Zeit mit diesen linksintellektuellen Spinnies in Berlin herumschlagen“.

Groß- und einzigartig aber sind die Auftritte von Martin Walser und Günter Grass. Wer formuliert auf einer Messe so schöne Worte wie „Ehrgeizprogramm“, „Umarmungsstärke“ oder „Rechthabersucht“? Und wer schreibt ein Theaterstück ohne Erzähler und mit ausschließlich Figurenrede und behauptet dann unter Zuhilfenahme von Platons Rede und Gegenrede, dies sei ein Roman? Das kann nur Martin Walser. Und niemand anderes sucht so viel körperliche Nähe zu seinen Gesprächspartnern, legt ihnen, wenn sie aus seinem Buch zitieren, zärtlich die Hand auf den Arm. Oder gibt ihnen, wenn sie früher auch mal kritische Worte für ihn fanden, nicht mehr ganz so zärtliche Klapse auf die Schulter oder ins Gesicht.

Während Walser unermüdlich sein Buch „Die Inszenierung“ vorstellt, ist Günter Grass fast so was wie ein Überraschungsgast. Am Stand des Steidl Verlags präsentierte er die neu aufgelegte, jetzt dreibändige Jubiläumsausgabe seines 1963 veröffentlichten Romans „Hundejahre“, mit 130 eigens von ihm dafür angefertigten Radierungen.

Seine „Arten und Unarten“ habe er beim Wiederlesen erkannt, und sprachlich sei dieser Roman „reicher“ als die „Blechtrommel“, auch fragmentierter und politischer. Grass, der nächste Woche 86 Jahre alt wird, erinnert sich, wie er den Roman damals in Berlin schrieb, kommt dann aber vor allem auf die Technik der Radierungskunst zu sprechen. Nach 20 Minuten ist alles vorbei. Die paar Menschen vor dem Stand strömen weiter, und später sieht man Günter Grass, wie er mit seiner Frau Ute aus einem Seiteneingang geführt wird, gebückt, aber einigermaßen gut zu Fuß. Ein sehr stiller, untypischer Grass-Auftritt war das, und irgendwie stimmte das hinterher sehr melancholisch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false