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Kultur: Zum Frühstück Zigaretten

Clownerien mit Kaurismäki und deutsche Triumphe: zum Abschluss der Filmfestspiele in Locarno

„Wenn Du Stil hast, dann bewahre ihn Dir“, sagte Aki Kaurismäki zu einem Rocker im Publikum. „Bewahre ihn, denn es ist das Einzige, was Du hast.“ Wie man aber dazu kommt, dass man Stil hat, das sagte der Finne nicht. Frédéric Maire, neuer künstlerischer Leiter der Filmfestspiele, hätte es wohl gern erfahren. Locarno ist immer noch – und wieder neu – auf der Suche nach seinem Stil, eingeklemmt in einen übervollen Festivalkalender. Maire entschlackte das Fest, wertete das Videoprogramm auf und führte den Nebenwettbewerb „Cineasten der Gegenwart“ ein. Dem Festival hat das gut getan. Kaurismäki, dessen sarkastische Verweigerungshaltung allmählich zur Clownspose erstarrt, stand im Mittelpunkt der Retrospektive. Schwer atmend fand er sich zum Publikumsgespräch ein. Er legte die Hand aufs Mikrofon und wandte sich dennoch gut hörbar an Maire, der zu seiner Rechten saß. „Wo ist mein Bier? Wo sind die Streichhölzer?“ Es ist elf Uhr morgens, der Meister verlangt nach seinem Frühstück (Alkohol und Zigaretten). Er zieht die Hand wieder zurück. „Und ihr wollt ein A-Festival sein?“ Nicht nur wer sein Frühstück vermisste, stellte gelegentlich dieselbe Frage. Der Hauptwettbewerb begann schwach, insbesondere das dreifach vertretene Independent-Kino aus Nordamerika langweilte mit seinen immer gleichen Gestalten, die mit verwitterter Miene durch Highschools oder Provinzstädte schlurfen und dabei sprechen wie Romanfiguren („Half Nelson“, „Black-Eyed Dog“, „Stephanie Daley“). Nicht besser: die unausgegorene, aber zum Postkartenkitsch aufgeblasene Musikerbiografie „El Benny“ aus Kuba. Oder „Suzanne“: Viviane Candas’ französischer Film über die letzte Liebe eines alten Mannes müht sich derart um altersweise Beiläufigkeit, dass er aussieht wie die eigene Stehprobe. Auch der Schweizer Film „Das Fräulein“ bot kaum mehr als Konsenskino – prompt erhielt er den Goldenen Leoparden als bester Film, wahrscheinlich weil man sich nicht entscheiden konnte, welche der drei Schauspielerinnen den Darstellerpreis bekommen soll.

Gut war es, sich erst einmal an die Nebenreihen zu halten. Der „Open- Doors“Workshop widmete sich dem Kino Südostasiens und führte erneut vor Augen, wie sehr die Jungregisseure Asiens das Kino selbst noch aus Thailand und Indonesien heraus inspirieren. Zum eigentlichen Publikumsfavoriten aber entwickelte sich jene Reihe im alten „Ex-Rex“-Kino, mit der Kaurismäki sich vor Kollegen verbeugte. In dieser „carte- blanche“-Reihe (Kaurismäki selbst sprach beharrlich von „à la carte“) war einiges ganz erstaunlich: das Bettler-Drama „Bab El-Hadid“ (1958) etwa des ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine – ein Seelenverwandter Kaurismäkis, wie man am selben Abend feststellen konnte, als der Finne seinen eigenen Film „Lights in the Dusk“ auf der Piazza vorstellte. Dann aber gab es auch im Hauptwettbewerb noch Grund zur Freude. Verónica Chens argentinischer Beitrag „Agua“ über das Scheitern zweier Leistungsschwimmer war sehenswert – nicht so sehr für seine Geschichte, sondern für die Fotografie des Schwimmens selbst. Tags darauf der rumänische Film „The Paper will be blue“ von Radu Muntean, eine tragikomische Satire über die Nachtpatrouille einer ratlosen vierköpfigen Panzereinheit in der letzten Revolutionsnacht vom Dezember ’89. Schließlich, kurz vor Schluss, die Entdeckung, ein Werk, das alle anderen turmhoch überragte: Laurent Achards „Le Dernier des Fous“, ein dichter, streng aus der Perspektive eines elfjährigen Jungen erzählter Film über eine Provinzfamilie in Auflösung. Unter der Oberfläche aber entpuppt sich der belgische Beitrag als dunkles Traumstück über das Ende der Kindheit: statt früh-adoleszenter Verwirrung und spielerischer Neugier keimt in dem jungen Außenseiter Martin (Julien Cochelin) kalter Horror.

Die Welt der Erwachsenen drängt sich bedrohlich auf: verschlossene Türen und plötzliche Gewalt, betrunkene alte Frauen, Menstruationsblut am Oberschenkel der Nachbarstochter. Martin kann die Eindrücke nicht entschlüsseln; sie stauen sich auf und führen mit einer an Michael Haneke erinnernden Zwangsläufigkeit zu einem Akt befreiender Gewalt. „Le Dernier des Fous“ erhielt den Preis für die beste Regie.

Die vier deutschen Beiträge in den beiden Wettbewerben waren sich – bei aller Verschiedenheit der Umsetzung – so nah, dass man fast schon von der Etablierung eines nationalen Subgenres sprechen könnte. Wie schon „Verfolgt“ und „Der Mann von der Botschaft“ geht es in Stefan Westerwelles beeindruckendem Erstling „So lange du hier bist“ und in Iain Diltheys „Gefangene“ um Intimgemeinschaften, die sich kurzzeitig zusammentun und sich vom Rest der Welt lösen – in der Wohnung eines Rentners, der dort einen letzten Abend verbringt mit dem Callboy, den er liebt (Westerwelle), oder in der Wohnung einer einsam vor sich hin welkenden Biologin, die von einem entflohenen Sträfling zur Geisel und Geliebten genommen wird (Dilthey).

Die Deutschen kamen gut an in Locarno: Angelina Maccarone erhielt für „Verfolgt“ den Goldenen Leoparden im Nebenwettbewerb, Burghart Klaußner zu Recht den Silbernen Leoparden als bester Darsteller („Der Mann von der Botschaft“); Stefan Westerwelle eine „besondere Erwähnung“ als „bestes Erstlingswerk“. Am Ende eines durchwachsenen Filmfestes ist es nicht schwer und auch nicht sehr originell, erneut in den Chor derer einzustimmen, die sich abfällig äußern über einen Wettbewerb, der das Niveau von Cannes, Berlin oder Venedig niemals wird erreichen können. Doch Frédéric Maire, der am Freitagabend auf der Piazza einen Schwächeanfall erlitt, mühte sich nicht ohne Erfolg um Stil für Locarno – als Festival der Entdeckungen, auf dem eher die einzelnen Momente zu finden sind als der große Wurf. Von diesen Momenten gab es zwar nicht genug. Aber es gab sie. Für die 59. Locarno-Festspiele gilt, was Kaurismäki bei der Entgegennahme seines Leoparden sagte: „Ich bin nicht unglücklich.“

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