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Kultur: Zum Jubiläum des Leipziger Verlags - Erinnerungen eines treuen Sammlers

Ich habe in Leipzig studiert, in der fünfhundertjährigen Buchstadt, und das hieß, zwei Mal in der Woche zog man allein oder in Gesellschaft durch die Antiquariate, begrüßte den Antiquar, um dann rasch die Zugänge in den interessierenden Abteilungen zu überprüfen, bevor man die Regale gründlicher durchsuchte. Man hatte mittlerweile einen Blick gewonnen für die bevorzugten Schriften, Papiere und Farben der verschiedenen Verlage, das half sich zu orientieren.

Ich habe in Leipzig studiert, in der fünfhundertjährigen Buchstadt, und das hieß, zwei Mal in der Woche zog man allein oder in Gesellschaft durch die Antiquariate, begrüßte den Antiquar, um dann rasch die Zugänge in den interessierenden Abteilungen zu überprüfen, bevor man die Regale gründlicher durchsuchte. Man hatte mittlerweile einen Blick gewonnen für die bevorzugten Schriften, Papiere und Farben der verschiedenen Verlage, das half sich zu orientieren. Der Antiquar kontrollierte misstrauisch sein studentisches Publikum, das mehr Interesse als Geld für seine Bücher aufzubieten hatte, und der alte Goedecke klärte die jungen Leute über die kaufmännische Seite seines Gewerbes auf, indem er lautstark und mit großer Regelmäßigkeit die in den Büchern blätternden Studenten mahnte: Kauft alte Bücher, damit es mir gut geht.

Inmitten der Regale gab es bei ihm eine Glasvitrine. Die Türen der Vitrine waren nicht verschlossen, aber nur der Antiquar selbst durfte sei öffnen. In der Vitrine standen nicht nur kostbare, sondern auch teure Ausgaben. Natürlich konnte man auch als Student den Antiquar bitten, dass er einem eins der ausgestellten Bücher in die Hand gibt, aber wenn er die Glastür öffnete, stand in seinem Gesicht unübersehbar ein: Wozu, mein Freund? Der größere und umfangreichere Schatz stand bei ihm in einem Raum, der mit einem Vorhang von den allen zugänglichen Geschäftsräumen abgetrennt war, ganz so wie auch in den anderen Antiquariaten. Hier waren die eigentlichen Kostbarkeiten, die seltenen Bücher, die nicht erwünschten Bücher, die verbotenen Bücher. In diese Hinterzimmer durfte man nur sehr selten einen Blick werden, diese Bücher waren 50 Wochen lang nur für die engsten Freunde des Antiquar zugänglich. In den restlichen zwei Wochen eines jeden Jahres allerdings passierte Wundersames: die Studenten wurden aus der Stadt hinaus in die Semesterferien geschickt, der geheime Raum stand jedem Besucher offen und die Bücher erlebten ein bis zwei wundersame Metamorphosen. Es war Messe, und die Stadt verwandelte sich und alles. Ein kleines Buch der Insel-Bücherei, in der Woche zuvor mit Glück und Geschick bei der Buchhändlerin für 1 Mark 25 erworben, kostete beim Antiquar nun zwanzig Mark, und er hoffte auf die zweite Verwandlung, bei der diese zwanzig Mark durch den rechten Kunden zu zwanzig Mark richtigen Geldes wurden. Aus 1 Mark 25 waren so innerhalb einer Woche einhundert Mark geworden, eine wundersame Geldvermehrung, eine märchenhafte Volkswirtschaft.

Der Befehl Nr. 337 der Sowjetischen Militäradministration verbot jede Preiserhöhungen. Die DDR-Regierung übernahm diese Art der märchenhaften Wirtschaftsführung, was freilich dazu führte, dass die Bände der Insel-Bücherei in der Herstellung schließlich drei Mark kosteten, um dann für 1,25 Mark verkauft zu werden. Es gab in der DDR gewiss kein Wirtschaftswunder, aber Wirtschaftswunderliches gab es reichlich.

Freilich, dieses Wunder der wundersamen Geldvermehrung gelang nicht mit jedem Buch. Es musste kostbar und möglichst selten sein, einen geschätzten Autoren haben und hohen buch-künstlerischen Ansprüchen genügen. Es musste möglichst ein Inselbuch sein oder - um Rudolf Alexander Schröder zu zitieren - ein Buch, von dem zu sagen war, es könne sich "was Type, Satz, Papier und Einband angehe, neben denen der "Insel" sehen lassen". Vor 100 Jahren entstand diese Insel. Der Beginn ist eine Zeitschrift "Die Insel", herausgegeben von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder. Das erste Heft, für den 15. Oktober 1899 geplant, erscheint im November 1899. Der Redaktionssitz ist anfangs in München, der Druck erfolgt in Berlin. Zwei Jahre später wird der selbstständige Verlag in Leipzig gegründet, in der Lindenstraße, in der Stadt, in der auch die beste deutsche Druckerei, Offizin Drugulin, beheimatet ist.

1905 kommt jener Mann in den Verlag und übernimmt bald die alleinige Leitung, der dem InselVerlag seine eigentliche Prägung gab: Anton Kippenberg. 45 Jahre lang führt er den Verlag. Ihm gelingt es, das Inselschiff durch die heftig tobenden Fluten dieses Jahrhunderts zu geleiten, einen anfangs völlig unterkapitalisierten Verlag über die ersten Jahre zu bringen und drohenden Konkurs abzuwenden. Wie jeder Verleger hatte er sein Geschäft auf einem denkbaren unsicheren Grund zu festigen, denn Autoren sind zwar das eigentliche Kapital eines Verlages, doch sind sie stets Wagniskapital. Jeder Tischler hat es einfacher, denn Holz, sagt eine alte Verlegerweisheit, ist weniger krumm gewachsen als Autoren. In all dem unterscheidet sich Kippenberg nicht von anderen großen Verlegern. Unvergleichlich aber ist, wie er - dem Zeitgeist trotzend - sein zweigeteiltes Verlagshaus durch die Nachkriegszeit brachte.

Unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs versuchten die Amerikaner - wissend, dass Leipzig von der Roten Armee besetzt wird, und wohl in Kenntnis über die vereinbarte Teilung Deutschlands und dem Verlauf der innerdeutschen Grenze wie auch über den beginnenden Kalten Krieg - Kippenberg und seinen Verlag zum Umzug in ihr Hoheitsgebiet zu bewegen. Kippenberg stimmte einer Zweigstelle in Wiesbaden zu. Damit begann ein Exodus aus dieser Stadt, der nachhaltige und nicht wiedergutzumachende Schäden der großen Buch- und Messestadt Leipzig brachte, die berühmt dafür war, dass zur geschätzten Leipziger Qualität der Fußweg gehörte: Verlag und Druckerei und Buchbinder und Klischee- und Gravieranstalten, alles war im graphischen Viertel der Stadt eng benachbart.

Auf die erfolgende politische Teilung Deutschlands und Zweiteilung des Verlages antwortete Kippenberg mit einer einzigartigen Verlagspolitik, in der er die Einheit und Zusammengehörigkeit der nun in Leipzig und Wiesbaden, später Frankfurt, getrennt existierenden Insel-Häuser weiterhin behauptete. In dieser Haltung hatten die beiden Verlagshäuser darauf zu achten, dass keines von ihnen etwas publiziert, was dem anderen schaden könnte. Dieses Festhalten an einem einigen Gesamtverlag in einem gespaltenen Deutschland vermochte Kippenberg so überzeugend durchzusetzen und zu leben, dass seine Nachfolger ihm auch darin folgten.

Die hochgerühmte Qualität der Buchherstellung verlangt er auch in Wiesbaden und lässt sich, solange diese Qualität dort noch nicht zu haben ist, diese aus Leipzig liefern. Als Jahre später Leipzig Materialprobleme hat und nun seinerseits nicht die westdeutsche Qualität erreicht, liefern Kippenbergs Nachfolger das benötigte Papier und Büromaterial. Noch bis zum Jahr 1960 müssen die Kalkulationen auch des westdeutschen Schwesterbetriebs dem Finanzprokuristen Köhler in Leipzig zur Genehmigung vorgelegt werden. Wer Deutschland einen will, sollte von diesem Verlag lernen. Mehr noch, man hätte die letzten 50 Jahre so viel gegenseitiges Interesse, Achtung und gleichberechtigtes Nebeneinander leben müssen, um heute Interesse, Respekt und Übereinstimmung zu haben. Doch dieses Kind liegt im Brunnen, nachträglich kann man es nicht mehr vor dem Sturz bewahren, man kann es nur noch retten.

Wer über den InselVerlag reden will ohne Katharina Kippenberg zu würdigen, sollte schweigen. Und so reihen sich Namen und Namen bis hin zu Siegfried Unseld, dem heutigen Insel-Chef. Alle haben Wichtiges für den Verlag geleistet, ohne die Arbeit eines jeden würde der Verlag heute nicht mehr bestehen.

Der InselVerlag, das ist für mich auch Goethes Auto. In jenem Antiquariat Goedecke, das ich als Student regelmäßig einmal in der Woche durchstöberte, traf ich eines Tages einen Kommilitonen an. Er kam zu mir und fragte, ob ich das Buch "Goethes Auto" in der Vitrine der kostbaren Bücher gesehen hätte. Nein, sagte ich und blieb stehen. Ich wollte mich nicht lächerlich machen und auf einen Studentenulk hereinfallen, denn schließlich gab es erst sechs, sieben Jahrzehnte nach Goethes Tod Autos, zu seiner Zeit gab es lediglich ein paar dampfbetriebene Vorgängermodelle, die sich nicht mittels Räder, sondern auf Beinen vorwärtsbewegten, gewissermaßen auf Hufen. Dass Goethe einen dieser Apparat kannte, einen sogar besessen haben sollte, schien mir mehr als zweifelhaft. Ich durchsuchte weiter die Regalreihen, bewegte mich aber in Richtung der Vitrine. Und tatsächlich stand dort ein gut gebundenes Buch, Teil einer angesehenen Gesamtausgabe mit dem Titel "Goethes Auto". Der Preis, der der Antiquar dafür verlangte, war ein letztes Echtheitszertifikat. Nicht erkennbar war, ob das Buch - erschienen in einer Werkausgabe Goethes - von ihm selbst verfasst worden war oder von einem Biografen, denn der Untertitel teilte nur mit, dass der Band Teil der biografischen Schriften sei.

Das Buch war zu Anfang dieses Jahrhunderts gestaltet und gedruckt worden, zu einer Zeit, als in Leipzig noch nicht einmal 200 Autos fuhren. Das Auto war noch ein so ungewöhnliches Ding, dass selbst der Fiskus, stets bemüht bei dem ihm unterworfenen Bürger neue sprudelnden Quellen ausfindig zu machen, diese Jahrhundertentdeckung noch nicht für sich entdeckt hatte. Eine Kraftfahrzeugsteuer wurde im Deutschen Reich erst später, 1906, erhoben. Das Auto hieß noch nicht Auto, selbst das Wort Automobil erscheint in den Lexika nur, um auf den Motorwagen zu verweisen. Der Zeitgeist hat aber das Wort bereits für den Motorwagen besetzt und es wenige Jahre später dafür vollständig okkupiert. So vollständig, dass heute keinem Verleger und Buchgestalter einfallen würde, den Titel für die autobiografischen Schriften nochmals so wie Kippenberg auseinanderzunehmen, zudem noch auf einen Trennungsstrich zu verzichten und - befremdlich für unser Auge und den Pennälerwitz provozierend - auf das Titelblatt zu schreiben

"Goethes Auto biographische Schriften"

Für mich steckt in diesem verkürzten Titel in nuce die ganze Leistung Kippenbergs. Goethe war sein Fixstern, sein Kompass, sein Verlag war bereits der eigentliche Klassikerverlag, bevor der InselVerlag seine Tochter, den Deutschen Klassiker Verlag, gebiert.

Ich hoffe für die Stadt Leipzig, dass der InselVerlag diese Stadt wieder zu seiner eigentlichen Heimat macht. Zur Verlagsgeschichte gehören München und Berlin, Wiesbaden und Frankfurt, aber Leipzig ist die wahre Heimat der Insel. Leipzig hat durch Krieg und deutsche Teilung sehr gelitten. Vieles ist wiederherstellbar, aber die stolze Buch- und Messestadt, die sie viele Jahrhunderte hindurch für Deutschland war, hat wohl irreparablen Schaden genommen. Ich wünschte, dass der InselVerlag noch deutlicher als bisher hier wieder siedelt.

Der in Berlin lebende Schriftsteller Christoph Hein hielt diese - hier gekürzt dokumentierte - Rede in dieser Woche in Leipzig zum 100. Geburtstag des Insel Verlages.

Christoph Hein

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