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Bigger than life. Richard Attenborough, Meryl Streep und Ben Kingsley bei der Oscar-Verleihung 1983, wo "Gandhi" gefeiert wurde.

© dpa

Zum Tod der britischen Regisseurs Richard Attenborough: Die Macht des Monumentalen

Regisseur, Schauspieler, Produzent - Richard Attenborough ist seit 60 Jahren eine Säule des britischen Kinos. Jetzt ist der Oscar-Preisträger im Alter von 90 Jahren gestorben.

Richard Attenborough gestorben. Die Nachricht kommt Sonntagabend eine halbe Stunde vor Mitternacht. Das ist Schlafenszeit. Die Phase, wo der Kopf sich nach und nach der Alltagsbilder entledigt. Doch jetzt stehen neue vor dem geistigen Auge. Sind erst undeutlich, verschwommen, werden klarer, werden mehr, wachsen weiter, obwohl das Bewusstsein längst entschlummert ist: ein weißbärtiger Teddybär mit Nickelbrille. Ein kahl rasierter dünner Inder mit weißem Lendenschurz. Dinosaurier, die einen defekten Elektrozaun durchbrechen und auf Menschenfang gehen. Militärisch aufgereihte Mädchenleiber, die „Chorus Line“, allesamt mit goldenen Zylindern gekrönt. Aber vor allem das eines nach Worten ringenden Mannes in gedecktem Fünfziger-Jahre-Tweed. Ein gefeierter Schriftsteller, Essayist, Redner, der doch für sein persönliches Fühlen, Wünschen, Begehren einfach keine Worte finden kann.

Der Teddybär, der vermeintlich gemütliche Weihnachtsmann, den er 1994 in „Das Wunder von Manhattan“ auch tatsächlich einmal gespielt hat, das ist der Altmeister selber – Richard Attenborough. Seit sechzig Jahren als Schauspieler, Regisseur, Produzent eine Säule der britischen Filmindustrie und – seiner zahllosen kulturellen und sozialen Ehrenämter wegen – auch der britischen Gesellschaft. Oscar-Preisträger, Fan des Fußballklubs FC Chelsea, Sammler von Picasso-Keramiken, schon 1976 von der Queen zum Ritter geschlagen und im Jahr 1993 – was selten vorkommt – sogar noch zum Lord Richard Samuel Attenborough of Richmond-on-Thames erhoben.

Zwanzig Jahre hat er an seinem Monumentalepos "Gandhi" gearbeitet

Der hagere indische Asket mit dem weißen Schurz und der den ganzen Subkontinent umwälzenden Wirkungsmacht, das ist Ben Kingsley. Der Schauspieler, den Richard Attenborough mit der Hauptrolle in seinem Monumentalfilm „Gandhi“ von 1982 überhaupt erst zu Ben Kingsley gemacht hat. Zwanzig Jahre hat Attenborough seinem Epos über den vom gewaltlosen Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi angeführten indischen Unabhängigkeitskampf gewidmet. Das Ergebnis gerät wie Gandhis Geschichte – bigger than life. So wie der Regisseur, den die „FAZ“ einmal den „letzten Monumentalfilmer“ nennt, es bei David Lean, einem seiner erklärten cineastischen Vorbilder gelernt hat. Mehr als 50 Millionen Mark umfasst das Filmbudget, 300 000 Statisten bietet er in den überwältigenden Massenszenen des trotzdem streng auf die Hauptfigur konzentrierten Geschichtspanoramas auf. Der Lohn sind acht Oscars, darunter zwei für Attenborough als Regisseur und Produzent, und ein britisches Empire, das sich uneingeschränkt zum eigenen historischen Versagen bekennt.

Sein künstlerisches Credo „Das Herz und die Seele des Publikums zu erreichen und ein bisschen auch seinen Verstand“ ist bei „Gandhi“ perfekt aufgegangen. Die filmische Wahrheit wurde als so wahr empfunden, dass der Regisseur hinterher sogar einen Anruf aus dem Weißen Haus erhielt. Präsident Reagan ließ anfragen, wann genau Gandhi denn den im Film genannten Satz, dass Armut die schlimmste Form der Gewalt sein soll, gesagt habe. Darauf Attenborough: „Tut mir leid, dass hat ihm nur der Drehbuchautor in den Mund gelegt.“ Doch das wollte keiner glauben. „Reagan benutzte das Zitat trotzdem in einer Rede vor den Vereinten Nationen.“ Und über seine anderes, fast ebenso berühmt gewordenes Freiheitskämpfer-Biopic „Cry Freedom“ (Schrei nach Freiheit) über den südafrikanischen Anti-Apartheids-Aktivisten Steve Biko, das 1987 auch auf der Berlinale stürmisch gefeiert wurde, sagte Nelson Mandela: „Dieser Film hat die Ansichten der weißen Bevölkerung zur Apartheid stärker verändert als irgendeine meiner politischen Reden.“ Kino-Revoluzzer muss gar nicht jeder sein. Auch ein klassischer Erzähler kann Erstaunliches bewirken.

Die humanitäre und politische Haltung hat Richard Attenborough, der als Labour-Party-Mitglied im Oberhaus saß, von den Eltern. Er stammt aus einer alten englisch-schottischen Offiziersfamilie, wurde aber am 29. August 1923 in Cambridge als Sohn eines Sozialisten – im Hauptberuf Rektor des Leicester University College – und einer Frauenrechtlerin geboren. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, adoptierten die Eltern zwei jüdische Flüchtlingsmädchen, die mit einem Kindertransport aus Deutschland gekommen waren. Richard Attenborough, der 1977 mit „Die Brücke von Arnheim“ ein glanzvoll monumentales Antikriegsepos gedreht hat, hat im Krieg als Pilot bei der Royal Air Force gedient.

Sein rundes, fröhliches Gesicht schränkte ihn schauspielerisch ein

Dass Selbstüberschätzung nicht zu seinen Eigenschaften zählt, zeigt das Zitat: „Ich bin kein großartiger Regisseur, ich bin ein guter Regisseur“. Auch die durch seine knuffige Physiognomie vorgegebenen schauspielerischen Grenzen waren ihm seit seinem Theaterdebüt 1941 und seinem Kinodurchbruch 1947 als Junggangster Pinkie in der Graham-Greene- Verfilmung „Brighton Rock“ bekannt. Da das Schicksal ihm ein rundes, fröhliches Gesicht gegeben habe, habe er meist Charaktere verkörpern müssen, die nicht seinem Alltag entsprachen, sagte der Absolvent der Royal Academy of Dramatic Arts einmal. Und das allein in mehr als 50 Filmrollen.

Dass sein Freund Steven Spielberg ihn 1993 nach 14 Jahren Leinwandabstinenz in seinem Abenteuerspektakel „Jurassic Park“ als Dinosaurier-verrückten Milliardär besetzt hat, der von den Zerstörungskräften der eigenen Schöpfung überrollt wird, hat ihn gefreut. Auch weil sein ehrgeiziges Biopic „Chaplin“ im Jahr zuvor ein künstlerischer und kommerzieller Flop gewesen war.

Ganz anders als „Shadowlands“ (1993), Attenboroughs einziges poetisches Melodram. Eine von Anthony Hopkins und Debra Winger ganz wunderbar still und zart gespielte Romanze, die eine im Oxford der fünfziger Jahre angesiedelte Episode im Leben des tief gläubigen Schriftstellers und Literaturprofessors C. S. Lewis erzählt. Kein großer, gewaltiger, sondern ein feinsinniger, empfindsamer Film, der innig und wahr von der Liebe und dem Tod erzählt.

Den hat Richard Attenborough, dessen kleiner Bruder der berühmte Naturfilmer David Attenborough ist und der seit 1945 mit der Schauspielerin Sheila Sim verheiratet war, schon im Jahr 2004 in einer persönlichen Tragödie kennengelernt: Er verlor seine älteste Tochter und eine 14 Jahre alte Enkelin im Tsunami. Nun ist er dem Tod mit 90 Jahren wieder begegnet.

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