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Zum Tod von Henning Rischbieter: Was vom Augenblick bleibt

Henning Rischbieter, Kritiker und Gründer der Zeitschrift "Theater heute", prägte ein halbes Jahrhundert Bühnengeschichte. Am Donnerstag ist er in Berlin gestorben.

Ein Außergewöhnlicher. Als Kritiker, Kollege, Freund, als wunderbar unprofessoraler Theaterprofessor und Zeuge eines Jahrhunderts, weit über die Bühne und die Künste hinaus. Henning Rischbieter war studierter Historiker, und der Geschichte mit all ihren Geschichten galt seine Leidenschaft. Zugleich aber steckte in ihm ein hochgebildeter Sinnenmensch, den die Verkörperung und Vergegenwärtigung von Poetischem und Politischem, von Kunst und Leben faszinierten. Darum interessierte ihn Theater, das Spiel mit der Welt. Und darin wollte er selber, der uneitel Wirkungsbewusste, mehr sein als nur ein stiller Beobachter.

Also hat Henning Rischbieter, der gebürtige Hannoveraner und Sohn eines Drechslermeisters, 1960 mitten in der Provinz, buchstäblich neben einem Acker im Dorf Velber bei Hannover die auf ihrem Feld bald einflussreichste Zeitschrift Europas und ja recht eigentlich der Welt gegründet: „Theater heute“. Nachdem Rischbieter rund zwei Jahrzehnte später als Theaterwissenschaftler an die Freie Universität Berlin berufen wurde, zog auch „Theater heute“ in die Stadt, deren jetzt gerade 50 Jahre alt gewordenes Theatertreffen wiederum durch Rischbieter wesentlich inspiriert wurde. Denn durch seine Zeitschrift, in der über die reine Schauspielkritik hinaus die Creme des Kulturjournalismus eine Bühne hatte, wurde überhaupt so etwas wie überregionale und internationale Theater- (und Opern-)Kritik erfunden.

Das war eine Anregung für das gesamte Feuilleton, zumal es nach 1945 nicht mehr eine einzige deutsche Hauptstadt gab, sondern als Frucht des Föderalismus viele alte und neue Kulturmetropolen. Ein schlagendes Beispiel demonstrierte in den 60er Jahren das Theater Bremen unter dem Intendanten Kurt Hübner. Die Zeitschrift, die Rischbieter mit dem späteren Dramaturgen und Regisseur Ernst Wendt und dann dem jungen Botho Strauß als Redakteuren betrieb, hieß damals im Scherz auch „Bremen heute“. In Bremen nämlich räumte der Bühnenbildner Wilfried Minks alle muffigen Kulissen ab und brachte die Pop-Art ins Theater, Peter Zadek und Peter Stein entstaubten die Klassiker, mit ihren neuen jungen Protagonisten Bruno Ganz, Vadim Glowna, Edith Clever, Judy Winter, Jutta Lampe. Sie alle hat Henning Rischbieter als Kritiker, Zeitschriftenherausgeber, Buchautor und, zuerst beim NDR, als Initiator von professionellen Fernsehaufzeichnungen wichtiger Inszenierungen mit durchgesetzt. Ebenso wie die künstlerische Neugründung der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer mit dem heute legendären Stein-Ensemble.

Rischbieters Credo als Kritiker: Erst schauen, dann bedenken, dann beschreiben

Ein Intellektueller und Macher. Mit mächtigem, graubärtigem Schädel und wohlgerundetem Bauch unterm sommerlich meist offenen, immer schlipslosen Hemd sah er eher aus wie ein französischer Weinbauer. Oder wie eine der wunderbaren Bohème-Figuren aus Filmen mit Michel Simon oder heute von Aki Kaurismäki. Ein glänzender Kinokenner und beim abendlichen Rotwein ein wunderbarer Filmstory-Erzähler war Henning Rischbieter übrigens auch. Scheinbar ganz in sich ruhend, steckte in ihm – nicht nur beim Schreiben – dazu ein streitbares Temperament, das am nächsten Morgen, ernüchtert, Freunde und Feinde gleichermaßen um Verzeihung bat. Sogar, wenn man ihm in seinem „sozialdemokratischen Realismus“, mit dem er Kunst, Politik und Leben betrachtete, widersprach. Rischbieter liebte den Widerspruch, obwohl in ihm eine um Harmonie ringende Seele hauste.

Im April 1945 verliert der kaum Achtzehnjährige im Endkampf um Berlin seinen linken Arm. In seiner schönen Autobiografie „Schreiben, Knappwurst, abends Gäste“, die vor vier Jahren erschienen ist, nennt das Rischbieter die „Quittung für mein Mitläufertum“. Und er hat sich, politisch-ethisch so unbestechlich wie schonungslos unsentimental, immer wieder gefragt, ob ein Arm „als Bezahlung“ wohl genüge angesichts des historischen Unrechts der Deutschen. Die deutsche Teilung sah er allerdings nicht als dauerhafte Quittung an – und er hat auch „Theater heute“ immer als publizistische Brücke gesehen, mit wachem Blick auf die kulturelle Szene hinter dem Eisernen Vorhang (der ja ein Begriff aus dem Theater ist). Viele Künstler, Heiner Müller etwa oder Thomas Brasch, gehörten zu Rischbieters weitem und, dank seiner Offenheit und Geistesgegenwart, wahren Freundeskreis.

Sein Credo als Kritiker: Erst schauen, dann bedenken, dann so genau wie möglich beschreiben „was war“ – bevor es zu einem Urteil kommt. Dem Transitorischen des abendlichen Spiels wollte er zumindest in der analytischen Deskription etwas Dauer verleihen. Und kaum einer vermochte eine flüchtige, schauspielerische Geste so präzise, so anschaulich und nachempfindbar in Worte zu fassen wie er. Davon könnten viele heute lernen.

Wir beide haben lange, kurzweilige Jahre bei „Theater heute“ zusammengearbeitet. Auf der Basis seines großherzigen Vertrauens, in einem intim kollegialen Siezverhältnis, für das Botho Strauß’ schöne Formulierung der „unüberwindlichen Nähe“ gut passte. Am Mittwoch ist Henning Rischbieter nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin, begleitet von seinen Töchtern und seiner Ehefrau, der Schauspielerin Iris Erdmann, mit 86 Jahren gestorben. Im Juni sollte er, der auch schon den Berliner Theaterpreis erhalten hat, in Berlin noch der Preis des Internationalen Theaterinstituts verliehen werden. Die Feier ist nun ein Trauerfall. Aber das Theater, gestern, heute, morgen, verdankt seinem großen Paten unendlich viel, selbst wenn es manchen Jüngeren im flüchtigen Augenblick nicht ganz bewusst sein mag.

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