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Viele Menschen kamen bei der offiziellen Trauerfeier für Margarete Mitscherlich zusammen. Alice Schwarzer hat dort gesprochen. Die Familie nicht. Foto: dapd

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Zum Tod von Margarete Mitscherlich: Die Trauer der Anderen

Ihr Sohn war froh, dass man ihn nicht für Nachrufe interviewt hat. Gelesen hat er die aber gerne. Von der Abschiedsfeier für Margarete Mitscherlich.

Wenn niemand etwas sagt, ist die Trauer am lautesten. Vom Band läuft Beethoven, gerade sind die Streicher ganz leise. Da kann man es hören: wie sie mit den Stühlen rücken, sich räuspern, die Nase putzen, die Handtaschen auf- und zuklappen, leise schluchzen. Die Menschen in der bis auf den letzten Platz gefüllten Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs nehmen Abschied, und das muss irgendwie raus.

In der ersten Reihe sitzt Matthias Mitscherlich, Margarete Mitscherlichs einziger Sohn. Auch er ist unruhig, setzt seine Brille auf und ab, packt sie ein, holt sie zurück. Auf ihn und seine Familie richtet sich die Kamera des Hessischen Rundfunks, ein Fotograf macht Bilder. Sie schauen nach vorne, dort steht die Urne zwischen Sonnenblumensträußen.

„In Liebe und Dankbarkeit“ stand über der Traueranzeige der Familie Mitscherlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nicht mehr und nicht weniger. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn war so einfach oder schwierig, wie so eine Beziehung eben sein kann.

Wenn Matthias Mitscherlich – es ist ein paar Tage vor der Trauerfeier – über das Leben und Sterben seiner Mutter spricht, klingt er gefasst. Alt ist sie geworden und ein glückliches Leben hatte sie, sagt er. Tatsächlich starb Margarete Mitscherlich einen Tod, den sich jeder wünscht. An einem Sonntag kam sie ins Krankenhaus, und am Dienstag, 12. Juni, schlief sie für immer ein. 94 Jahre und keine Schmerzen, so ein Tod hinterlässt niemanden verbittert.

Als Beethovens letzte Noten verhallt sind, tritt Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth nach vorne. Sie rückt das Mikrofon zurecht, und sagt mit fester Stimme, was zu sagen ist. Die Leute sitzen wieder ruhiger. Roths Sätze über Mitscherlich, die in Frankfurt das Sigmund-Freud-Institut gegründet hat, die hier lebte und arbeitete, klingen ehrfürchtig. Sie sagt: „Wir Bürger und Bürgerinnen der Stadt Frankfurt verneigen uns vor dieser Persönlichkeit.“

An die 200 Briefe und E-Mails hat Matthias Mitscherlich in den vergangenen Wochen gelesen. Darunter höchst offizielle Schreiben, die die Bedeutung seiner Mutter für die Gesellschaft hervorhoben, „oder das, was die Menschen eben als bedeutend empfunden haben“. Auf dem Absender standen Namen wie Gauck oder Bouffier. Die Traueranzeige der Fischer Verlage nannte sie eine „außergewöhnliche Frau und große Autorin“. Zeitungen schrieben über die „Grande Dame“ und „Urmutter der Psychoanalyse“ – da war es dann gar nicht mehr so wichtig, dass sich Margarete Mitscherlich gegen diese Bezeichnungen immer gewehrt hatte.

Im Tod wird jeder größer, und wer schon eine Größe war, der erst recht. Ihn habe zu den Nachrufen in der Presse niemand interviewt, sagt Matthias Mitscherlich. „Darüber bin ich auch sehr froh.“ Denn diese Form der Trauer, die freut ihn, doch es ist die Trauer der Anderen. Nicht seine.

Zum Schluss haben sich die Rollen zwischen Mutter und Sohn verkehrt

Alice Schwarzer ist zweite Rednerin. Sie fasst das Leben der Verstorbenen für alle zusammen, weniger ihr Wirken, und richtet sich immer wieder direkt an die Familie. „Matthias“, sagt sie und lächelt. Wer die Bücher von Margarete Mitscherlich gelesen hat, kennt den Sohn vor allem als kleines Kind.

Auch Alice Schwarzer kommt darauf zu sprechen, dass seine Mutter ihn für die ersten Jahre zu ihrer Mutter nach Dänemark gab. Damit sie arbeiten konnte. Die Selbstvorwürfe, die sich Margarete Mitscherlich deshalb gemacht hat, spielten eine große Rolle in ihrem Einsatz für die Emanzipation von Frauen. Es war ihr Preis, den sie zahlen musste. Auch er hat es ihr mal vorgeworfen, hat sie später erzählt, als er gerade selbst Vater geworden war.

Der Junge ist inzwischen selbst 63 Jahre alt. Das graue Haar trägt er kurz, er lacht viel, darin ist er seiner Mutter ähnlich. Er war früher als Manager viel im Ausland unterwegs, heute lebt er mit seiner Frau im Ruhrgebiet. Die eigenen Kinder sind schon erwachsen. Sie und die Enkel sitzen mit auf der Bank in der ersten Reihe. Margarete Mitscherlich sei stolz gewesen, sagt Schwarzer, dass ihr Sohn ein anderes Lebensmodell wählte als sie.

Zum Schluss, wie so oft bei Eltern und Kindern, haben sich die Rollen zwischen ihm und seiner Mutter ein wenig vertauscht, hat er sie hin und wieder ermahnt. Wenn es sie betrübte, dass der Körper nicht mehr so wollte wie ihr starker Wille. Oder weil sie nicht mehr in ihr geliebtes Ferienhaus am Lago Maggiore fahren konnte. Da musste er sie manchmal bremsen, sagt er, damit es nicht zu sehr auf ihre Lebensfreude schlug.

Margarete Mitscherlich hatte versucht, sich an den Gedanken des eigenen Todes zu gewöhnen, schrieb sie in ihrem letzten Buch „Die Radikalität des Alters“. Sie war eine der letzten, die aus ihrem Freundeskreis noch lebte. Lange hat sie morgens noch vor dem Fernseher zur Morgengymnastik geturnt. Dafür hatte sie extra eine Matte im Schrank stehen. Gepflegtes Aussehen war ihr wichtig. Bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt im April 2012 – zum 25. Jubiläum des Mainzer Frauenbüros – trug sie eine Perlenkette zum Sakko. Sie saß sehr aufrecht, und sie lachte viel. Neben dem Tisch auf der Bühne stand ihr Rollator, den sie nicht mochte. Eine „peinliche Karre“ hat sie ihn mal genannt. Sie hatte sich vorher lange überlegt, ob sie zusagt. Es ging ihr zwischenzeitlich nicht gut. Ein Schlaganfall auf offener Bühne, so etwas war für sie eine Horrorvorstellung. Das blieb ihr erspart.

„Sie waren die Einzige, die mich verstanden hat in den Untiefen meiner Seele“, schreibt eine ehemalige Patientin in eins der ausgelegten Kondolenzbücher. Sie sei ihr für ewig dankbar. Der Dank für Beistand und guten Rat zieht sich durch die Abschiedsworte der Trauernden. „Deine Tipps waren immer super“, schreibt ein kleines Mädchen. Sie werde sich immer daran erinnern. Und sie wolle jetzt auch Altgriechisch lernen, „so wie du es immer wolltest.“

Trauern war Mitscherlichs Lebensthema

„Trauern nimmt man sich nicht vor. Das überfällt einen, und dann muss man da durch“, sagte Margarete Mitscherlich in einem Interview. Oft auch ist Trauer verbunden mit Enttäuschung, mit Wut, mit Verlassensein. Auf diese Ambivalenz hat Mitscherlich immer wieder hingewiesen, denn sie wusste um die Schuldgefühle, die viele ihrer Patienten wegen solcher Gefühle quälten. Ein Mensch, der immer da war, ist weg. Einfach so. Das bleibt auch nach einem langen Leben so.

Für Margarete Mitscherlich war Trauern ein Lebensthema. Es hat sie in Deutschland bekannt gemacht. Geboren 1917 als Margarete Nielsen, Kind eines Dänen und einer Deutschen, studierte sie während des Zweiten Weltkriegs Medizin und Literatur in Heidelberg. Nach dem Krieg ging sie in die Schweiz und lernte dort Alexander Mitscherlich kennen, fand durch ihn zur Psychoanalyse. Ins Nachkriegsdeutschland zurückgekehrt, versuchten die beiden mit Hilfe der „Neurosen der Patienten“ die „Katastrophe drittes Reich“ zu verstehen.

Ihnen sei bald klar geworden, schrieb die Analytikerin später, dass die Vergangenheit abgeschlossen sein müsse, um Gegenwart herzustellen. „Ohne Trauerarbeit war und ist das nicht zu leisten.“ Die Trauer als Arbeit und Anstrengung. Als Bewältigungsmethode.

Gemeinsamer Abschied.
Gemeinsamer Abschied.

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Neben der privaten Trauer brauchte es für Alexander und Margarete Mitscherlich nach dem Zweiten Weltkrieg eine „kollektive Trauer“. Die Deutschen als Gesellschaft aber lebten in einer Schockstarre, einer „Unfähigkeit zu trauern“. Statt um verlorene Ideale zu weinen und damit auch die eigene Schuld und Mitverantwortung an den Verbrechen anzuerkennen, hätten sich die Deutschen sofort in den Wiederaufbau gestürzt. Aber nur das Beschäftigen mit dem verursachten Leid, auch in nachfolgenden Generationen, könne Wiederholung verhindern.

Als die Trauerfeier vorbei ist, stehen die schwarz gekleideten Menschen vor der Totenhalle. Es wird viel gelacht, die Anspannung ist raus. Trauerfeier – heißt es ja auch. Die Sonne scheint auf die Bäume und Wege des riesigen Friedhofsgeländes, das umschlossen ist von zwei kleinen Friedhöfen in direkter Nachbarschaft: dem Neuen und dem Alten Jüdischen Friedhof. Sie liegen dicht an dicht.

„Es gab Diskussionen über den Umgang mit dem Holocaust, seit ich mich erinnern kann“, sagt Matthias Mitscherlich. „Nicht nur am Abendbrottisch, auch am Mittagstisch, es hat immer sehr großen Raum bei uns eingenommen.“ Die drei diskutierten untereinander, oft waren aber auch Freunde zu Besuch, die bis spät in die Nacht blieben. So erinnert sich Matthias Mitscherlich gern an seine Eltern: beim liebevollen Streit in diesen abendlichen Gesprächen.

Zu trauern erleichtere letztendlich das Leben, das betonte Mitscherlich immer wieder und schlug selbst die Brücke zwischen der kollektiven und der individuellen Trauer. Das Gute an der kollektiven Trauer sei doch, dass sie gemeinsam durchzustehen sei. „Trauer ist ein Wunsch, doch nicht ganz verloren und verlassen zu sein, wieder zusammenzugehören“, sagte sie. Die individuelle Trauer, sagte sie damit implizit, sei dagegen etwas, durch das jeder allein durchmüsse.

Diese Erfahrung blieb auch ihr nicht erspart. 1982 starb Alexander Mitscherlich, da war sie erst 64. Ganz anders als Margarete Mitscherlich litt er lange, war zehn Jahre schwer krank. „Uns alle, aber besonders meine Mutter hat das sehr hart getroffen“, sagt Matthias Mitscherlich. Sie sei es gewohnt gewesen, ihre Gedanken immer mit ihm teilen zu können. Sie selbst erzählte, dass sie manchmal habe mit der Faust auf den Tisch hauen wollen und ihn anschreien, dass er doch spinne. Aus Hilflosigkeit. Als er dann schlussendlich einschlief, hatte es etwas von Erlösung. Auch dieses Gesicht können der Tod und die Trauer haben. Sie vermisste ihn die ganzen kommenden 30 Jahre.

Bald wird die Familie Margarete Mitscherlich neben ihrem Mann im Doppelgrab beerdigen. Es liegt ganz hinten im alten Teil des Friedhofs. Sie werden bei der Beerdigung unter sich sein.

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