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Patrice Chéreau im Jahre 2006.

© dpa

Zum Tod von Patrice Chéreau: Der grausame Gott der Intimität

Er schmiedete den „Jahrhundertring“ in Bayreuth, gab dem Theater Kraft, schuf großes Kino: Nun ist der Regisseur Patrice Chéreau im Alter von 68 Jahren in Paris gestorben.

Es lag dichter Nebel über der Strandpromenade, es war ein Wetter wie in den Filmen von Theo Angelopoulos, in jenen Apriltagen des Jahres 2008, als Patrice Chéreau in Thessaloniki mit dem Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde. Souverän, gut gelaunt, eloquent und höflich in jedem Gespräch, ob auf Französisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch geführt, voller Energie, Geist und Witz, so war der Regisseur in der nordgriechischen Hafenstadt zu erleben. Dort, wo man bei klarer Sicht zum Olymp hinüberschaut, dem Sitz der Götter.

Unsere Griechengötter, aus der Nähe betrachtet, sind menschliche Schöpfungen und nur deshalb nicht sterblich, weil sie im Mythos weiterleben, weil Künstler ihnen aufs Neue Atem einhauchen. Und wenn man sich auch scheut, solche Bezeichnungen herauszuschleudern: Patrice Chéreau gehörte zu den Olympiern des Welttheaters. Einst war dieses Theater Wort, Bewegung, Musik, auf einer Szene vereint. Dann spaltete es sich auf in Schauspiel, Oper, Literatur, Tanz, Kino. Patrice Chéreau hat auf all diesen Bühnen Gewaltiges geleistet, Maßstäbe gesetzt, Erinnerungen geschaffen, die ein Leben im Kunstbetrieb prägen können, ein Erleben formen. Viel mehr geht nicht.

Am Montagabend ist er in Paris gestorben. Er hatte Lungenkrebs. Er wurde 68 Jahre alt. Gearbeitet hat er bis zuletzt. Seine Inszenierung der „Elektra“ von Richard Strauss noch im Juli in Aix-en-Provence war ein Triumph.

Er hatte immer diesen Jungenblick. Man spürte in seiner Gegenwart, das ist ein Schauspieler. Nicht im dem Sinne, dass er sich verstellt hätte, im Gegenteil. Es war die Unmittelbarkeit in seinem Dasein, Hiersein. Das hat er gesucht in seiner Arbeit. Das sind schließlich, wenn er so weit vorgedrungen war zum Existenziellen, die Werke, die bleiben.

Mit der zarten Schauspielerin Dominique Blanc, die auch seine Phädra war, die heiß und unglücklich liebende Königin, Selbstmöderin, ging Chéreau in Thessaloniki auf die Bühne und las, spielte, zelebrierte einen Text der Marguerite Duras, „La Douleur“. Eine atemraubende Geschichte aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Eine Frau wartet auf die Rückkehr ihres Mannes, den die Nazis ins KZ verschleppt haben. Der Mann kommt aus der Hölle wieder, und seine Erholung wird exakt protokolliert, kein quälendes medizinisches Detail ausgelassen. Ein zum Erbarmen harter, humaner Text. Ein Abend in unerträglicher Stille und Präzision. Getragen von einer Intellektualität, wie sie allein die französische Tradition eines Artaud oder Genet hervorbringt. Da sind Geist und Körper kein Antagonismus, vielmehr führt die Reflexion zum Fleisch.

„La Doleur“. Der Schmerz. Der Kern von Chéreaus Regieführen, das eine Recherche war und der einfachsten und schwierigsten aller Regiefragen nachgingt: Wie passen Körper und Sprache, Stimme und Physis zusammen? Wie kann es schmerzhaft sein und nicht peinlich, wie erreicht ein Schauspieler, eine Sängerin das Expressive und zugleich Subtile?

Er war ein zutiefst melancholischer Skeptiker. Wie oft hat er seinen Abschied vom Theater verkündet – und genommen! Auch das zeichnet seine Größe aus: dass er nicht einfach immer nur weitergemacht hat, blind und innerlich abgebrannt wie so viele Regisseure seiner einst revolutionären Generation. Dass er innehalten konnte, nicht auf Intendantenstühlen klebte und seinen Ruhm verwaltete. Was in der Kunst, wenn man sie ernst nimmt, ohnehin nicht funktioniert.

Wie vergänglich das alles ist, der Betrieb, die Berühmtheit, das hat er auch 1989 schon erfahren, als Bernard-Marie Koltès starb, mit 41 Jahren, ein Opfer von Aids. Chéreau hatte 1983 das Théâtre des Amandiers in Nanterre mit dem „Kampf des Negers und der Hunde“ von Koltès eröffnet, mit Michel Piccoli, und später alle Stücke des auratischen Dramatikers inszeniert. Er galt als Wunderjunge, wie Chéreau einst selbst, in den Sechzigern und Siebzigern, als er Anführer eines neuen Theaters in Frankreich war.

Es grenzt an eine Beleidigung zu sagen, Chéreau sei ein vielfältiger Künstler gewesen. Weil es den Kampf unterschlägt, die Spannung, die er aushielt, der er nachgab. Im Film, hat er vor einigen Jahren gesagt, „kann ich über mich sprechen, über die Welt um mich herum. Im Film kann ich mich zeitgenössisch ausdrücken.“ Vielleicht auch persönlicher werden. Der Film „L’ homme blessé“ (1983) führt in die Welt der Stricher und Spanner und erzählt von einer homosexuellen Anziehung, die das gewalttätige Wesen der Sexualität umkreist. Es steckt ein Fatalismus in Chéreaus Filmen, den man nur zärtlich nennen kann. „Son Frère“ (2003) ist ein Film über das Sterben eines jungen Mannes, der eine unheilbare Blutkrankheit hat und sich, so hoffnungslos ist die Lage, aus der Obhut der Ärzte verabschiedet, um noch einmal menschliche Nähe und Würde zu finden.

Der Goldene Bär für "Intimacy"

Für "Intimacy" gewinnt Chéreau 2001 den Goldenen Bären.
Für "Intimacy" gewinnt Chéreau 2001 den Goldenen Bären.

© picture-alliance / dpa

Patrice Chéreau hat auch großes Kostümkino gemacht. „La Reine Margot“ („Die Bartholomäusnacht“, 1994) mit Isabelle Adjani demonstriert in opulenten, brutalen Bildern, wozu christlicher Fanatismus in der Lage ist und worauf unsere westliche Zivilisation auch gründet: Massaker, Intoleranz, Gewaltlust. Wiederum ist es der Mensch selbst, der eben das sucht, der danach verlangt. Für „Intimacy“ wurde Patrice Chéreau 2001 in Berlin mit dem Goldenen Bären geehrt. Das war – und ist – eine Kinoerfahrung, die nur mit Oshima oder Kieslowski zu vergleichen ist. Ein Mann und eine Frau treffen sich einmal in der Woche in seiner Wohnung, um Sex miteinander zu haben. Es handelt sich um den ebenso gezielten wie absurden Versuch, Sex vom Alltag abzulösen, in reiner Form zu praktizieren, ohne emotionale Bindung, ohne Zukunft, ohne Folgen.

Die Akteure Kerry Fox und Mark Rylance ließen sich auf vollständige, nicht bloß angedeutete und gespielte Koitusszenen ein – was bei Chéreau das schiere Gegenteil eines Pornos war, es fehlte jedes voyeuristische Element. Im Zuschauen lag ein Erschrecken, eine Neugier, wie eine solche Affäre zu bewerkstelligen und überhaupt auszuhalten sei. Vor allem aber, ganz chéreauisch-heroisch entstand dabei etwas, das man nur Respekt nennen kann. Respekt vor der anonymen Attraktion, der zerstörerischen Energie des Sexuellen. Es ist der Mann, der die Verabredung bricht. Er muss etwas über die Frau erfahren. Er macht es wie Orpheus, falsch: Er schaut nach. Er kann nicht anders.

In dem Moment, da man die Todesnachricht zu gewärtigen hat, reißt ein Panoramahimmel auf; all die Dinge, die sich mit Chéreau über die Jahrzehnte verbinden. Nur ein verdammt schwacher Trost: Der Sohn eines Malers und einer Zeichnerin von der Loire begann früh mit dem Theater, er konnte so viel realisieren. 1976, vor 37 Jahren, inszenierte er in Bayreuth den „Ring des Nibelungen“! Nein, nicht irgendeinen „Ring“, sondern den Jahrhundertring, mit Pierre Boulez als Dirigent und dem Bühnenbildner Richard Peduzzi.

Richard Wagner kannte seinen Shakespeare, und der junge Franzose wusste das auch. Chéreau erzählte die krude germanische Familiendichtung als wilhelminische Industriellensaga. Die Krupps auf dem Grünen Hügel. Da lag dann, so genial war die Idee, alles Weitere drin: der Aufstieg des Deutschen Reichs, der Erste Weltkrieg, die Nazi-Barbarei. Chéreau hatte eine Regieoper geschaffen, an der sich die Bayreuth-Strategen noch heute messen lassen müssen. Jene legendäre mis-en-scène vereinte Ästhetisches und Politisches. Nichts war aufgesetzt, alles aus einem Guss, wie aus den Hochöfen der Krupp’schen Waffenschmiede.

Nur zwei Jahre ist es her, dass seine Janacek-Inszenierung „Aus einem Totenhaus“ an der Staatsoper in Berlin gastierte. Leiden im zaristischen Straflager, Männer, die ums Überleben kämpfen, um Haltung. Patrice Chéreau führte den Kampf da schon in seinem eigenen Körper. Ein anderer hatte die Regie übernommen, der Tod.

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