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Der Droste Schwester. Sarah Kirsch (16. April 1935 - 5. Mai 2013) im schleswig-holsteinischen Tielenhemme.

© Isolde Ohlbaum/laif

Zum Tod von Sarah Kirsch: Im weiten Land

Sie war die Dichterin der Freiheit und der Bitterkeit. Die Natur wollte sie unverseucht von allem Kulturellen wahrnehmen. Wie jetzt bekannt wurde, ist Sarah Kirsch bereits am 5. Mai gestorben.

Von Gregor Dotzauer

Die reine Naturidylle war ihren Gedichten lange fern. Ein Unheil lauerte immer nur wenige Verse entfernt, und Sarah Kirsch sah sich in einem Stand der Gnade, aus dem sie jederzeit vertrieben werden konnte. „Im August fallen Sterne“, heißt es in ihrem Gedicht „Im Sommer“ aus dem Band „Rückenwind“ (1976): „Im September bläst man die Jagd an. / Noch fliegt die Graugans, spaziert der Storch / / Durch unvergiftete Wiesen. Ach, die Wolken / Wie Berge fliegen sie über die Wälder. // Wenn man hier keine Zeitung hält / Ist die Welt in Ordnung. / In Pflaumenmuskesseln / Spiegelt sich schön das eigne Gesicht und / Feuerrot leuchten die Felder.“

Was dabei die Wirklichkeit eines Landes war, das sie im Jahr darauf, nach der Unterzeichnung des Protestbriefs gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, gen Westberlin verließ, und was ihr als grundsätzliche Heillosigkeit des Menschengeschlechts erschien – es lässt sich kaum auseinanderhalten. Sie beanspruchte das Recht, sich im Schatten gegenwärtiger und zukünftiger Verhängnisse noch eine Weile verschont zu fühlen. Die Hässlichkeit der bewohnten Welt blieb ausgespart, die Jahreszeiten und das Spiel der Elemente gaben bis zuletzt den Rhythmus vor. Das Naturmagische siegte über die Bedrohung durch den zivilisatorischen Bruch.

Auffällig aber ist, dass ihre Texte mit den Jahren immer lieblicher wurden – ganz im Gegensatz zu ihr. Sie vergrub sich in einer ans Bittere und Bockige grenzenden Melancholie, in der sie sich nur ungern aufstören ließ. 2002, sie lebte längst im schleswig-holsteinischen Tielenhemme, einem 140-Seelen-Dorf am Eiderdeich, veröffentlichte sie in dem Band „Schwanengesang“ ein zweites Gedicht unter dem Titel „Im Sommer“.

„Tautropfen im / Rosennest“, beginnt es. „Es kommt auf die / Inneren Werte an / Sagt der Mund / Ohne Zähne. // Als schiene der Mond am / Frühen Morgen so hell der / Frischgefallene Schnee /Auf der Krone des Deichs. // Ein paar / Glänzende Federn / Habe ich noch in / Meinem Kleid.“ Sosehr es dem Kitsch und dem Preziösen entgeht, Versuchungen, denen sie nicht immer widerstand, sosehr imitiert es ihren eigenen Ton, dessen Sehnsuchtsmelodie sie einst mit erfrischender Schnoddrigkeit parierte.

Ihre Zeilen schrumpften, ohne dass sich ihre Aussage verdichtet hatte. Hier raschelte es im Gras, dort zerschmolz eine Schneeflocke, und die stille Vision einer nahenden Bedrohung verlagerte sich ins Subjektive. Die Politikferne ihrer ökologisch wachen Verse verlor sich in einem gefälligen Memento Mori.

Sarah Kirsch kam am 16. April 1935 im südharzer Limlingerode zur Welt, wo in der Langen Reihe 11, ihrem Geburtshaus, seit 2002 eine nach ihr benannte Dichterstätte untergebracht ist. Als Tochter eines Fernmeldemechanikers in Halberstadt aufgewachsen, muss sie im April 1945 auch jenen verheerenden Luftangriff der Alliierten miterlebt haben, den Alexander Kluge in seinem Werk so oft verarbeitet hat. Nach dem Abitur begann sie eine Lehre zur Forstarbeiterin und arbeitete in einer Zuckerfabrik. In Halle ließ sie sich zur Diplom-Biologin ausbilden, in den Jahren 1963 bis 1965 folgte am Leipziger Johannes R. Becher-Institut das Studium der Literatur.

Erde, Wind und Himmel, Raben, Eulen und Fische, Schilf, Gras, Linden und Kastanien musste man ihr da nicht mehr nahe bringen. Der „Landaufenthalt“, der 1967 ihrem ersten Band unter eigenem Namen den Titel gab, war das, was ihr entsprach. Er wirkt deshalb so unverbraucht, weil die Gegenwelt der Stadt immer wieder durch ihre reimlos frei gefügten Verse blitzt. „Ich hau mich durch Autos bei Rot“, schreibt sie in „Trauriger Tag“. „Geh ins Café um Magenbitter / Fress die Kapelle und schaukle fort // Ich brülle am Alex den Regen scharf“ und gerät doch nur immer tiefer ins Unwetter. Denn „es regnet den siebten Tag / Da bin ich bös bis in die Wimpern“.

Im Herzen war sie eine Romantikerin: altmodisch in der liedhaften Einfachheit, die ihre Kraft ausmachte, und theoriefern. Sie verstand sich als Nachfolgerin von Bettina von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff, der sie in dem Band „Zaubersprüche“ (1973) auch eine viel zitierte Reverenz erwies: „Der Droste würde ich gern Wasser reichen / In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel / Nennen, wir richten unsre Brillen / Auf Felder und Holunderbüsche, gehn / glucksend übers Moor“.

Da ist er wieder, der Abgrund, über dem sie sich wandeln sah, das Dunkle der Natur, das sogar die gutwilligsten Menschenherzen verschlingt. Anders als für eine Gegenfigur wie den im Westen groß gewordenen Rolf Dieter Brinkmann, dem man nicht nur durch seine Eichendorff-Bewunderung romantische Wurzeln nachsagen kann, kam sie jedoch nie in Versuchung, ihre Bildwelten zu erweitern: Die Wahrnehmung der Natur hatte unverseucht von Kulturellem stattzufinden. Es war ein Höhepunkt an Wagemut, als sie dem alten Mond, den Brinkmann so gern noch einmal unverstellt besungen hätte, in einem Zweizeiler nachsagte: „Neu ist er / Gepiercte Nacht.“

Sie blieb darin dem Umkreis der Sächsischen Dichterschule verhaftet, die aus heutiger Sicht viel homogener wirkt, als sie es jemals war. Neben ihrem ersten Mann Rainer Kirsch, von dem sie sich 1968 scheiden ließ, gehörten ihr auch Karl Mickel an, der Vater ihres 1969 geborenen Sohnes Moritz, oder Heinz Czechowski. In frühen Jahren hatte sie sich auch an anderen Tönen versucht. Zusammen mit Rainer Kirsch schrieb sie 1964 für Thomas Billhardts Bildreportage „Berlin – Sonnenseite“ einen Text über das „Deutschlandtreffen der Jugend“ oder arbeitete 1969 an einem Buch über den Vietnamkrieg mit. Mit „fünf unfrisierten Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder“ unter dem Titel „Die Pantherfrau“ schuf sie 1975 mit Interviews aus dem DDR-Alltag überdies ein Pendant zu Erika Runges „Bottroper Protokollen“.

Mehr Einlassung mit dem gesellschaftlichen Alltag war nicht ihre Angelegenheit. Die Opposition gegen das autoritäre DDR-Regime war von einem persönlichen Freiheitswillen getragen, und der Widerwillen gegen das intellektuelle Appeasement linker Bundesrepublikaner gegenüber dem Nachbarstaat von schlichtem Ekel getragen. Diese nie offen Stoff gewordene Distanz war über Jahre das literarische Pfund, mit dem sie wucherte. Gerade im Westen wurde sie damit zu einer der meistgelesenen zeitgenössischen Lyrikerinnen – und zu einer der anerkanntesten. Nach dem Petrarca-Preis und dem Peter-Huchel-Preis wurde ihr 1996 auch der Georg-Büchner-Preis verliehen.

Das war schon zur Spätzeit ihrer literarischen Fruchtbarkeit. Man bewunderte die Dichterin der weiten deutschen Landschaften nicht weniger als die Dichterin der Liebe, die persönlich vom Wankelmut zwischen den Geschlechtern mehr zu wissen schien, als sie in ihren Versen andeutete. Mit den jüngeren Männern, die ihre Wege kreuzten, dem österreichischen Dichter Christoph Wilhelm Aigner oder dem Komponisten Wolfgang von Schweinitz, der in ihren Tagebuchaufzeichnungen immer nur „il compositore“ heißt, fand sie kein dauerhaftes Glück.

„Ich will jetzt in Ruhe vertrotteln“, sagte sie in den letzten Jahren gerne zu denen, die noch einmal die Dichterin in ihr hervorlocken wollten. Aus ihrer Tielenhemmener Einsiedelei, wo ihr neben den geliebten Katzen zuletzt vor allem ihr Sohn und Mitbewohner Moritz Gesellschaft leistete, erreichten ihren Verlag, die Münchner DVA, zusehends haikuartige Miniaturen und Tagesnotate. Sie zeugen immerhin davon, dass sie mit dem Fernseher 2001 durchaus noch in die Welt schauen konnte. In ihrer unmittelbaren Umgebung sah es da schon trüber aus. „Ich habe keine Freunde mehr“, hält sie unter dem 19. Dezember, einem „Mistwoch“ fest: „Ich habe sie alle umgebracht.“ In einem Krankenhaus in Heide hat sie sich, wie erst jetzt bekannt wurde, am 5. Mai nun im Alter von 78 Jahren aus diesem Leben davongestohlen.

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