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Silvia Bovenschen in ihrer Wohnung in Charlottenburg.

© Foto: Doris Spiekermann-Klaas

Zum Tod von Silvia Bovenschen: Witz und Grandezza

Freies Denken, funkelnde Sprache: Die Berliner Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen ist gestorben.

Der Erstkontakt war dieser Essayband, der zur Jahrtausendwende erschienen ist. Auf Empfehlung einer Freundin und ohne Kenntnis der Autorin Silvia Bovenschen erstanden. Ein vornehm zurückhaltendes Buch: weiß eingebunden, auch der Schutzumschlag weiß, leicht grau schraffiert, nur mit zarten bunten Schrifttypen bedruckt: „Über-Empfindlichkeit“, stand da, und ein ob seiner Gelehrsamkeit leicht abschreckend wirkender Untertitel „Spielformen der Idiosynkrasie“.

Doch schon ein einziger, gleich nach der Inhaltsangabe platzierter Satz bricht das Eis. Bovenschen hat ihren sprachfunkelnden Aufsätzen zur Geistesgeschichte und zum Wesen der menschlichen Abneigung, die aus Bauchestiefe aufsteigt und Dinge, Geräusche, Gerüche oder Mitmenschen trifft, einen Satz von Paul Valéry vorangestellt, der mit schlagendem Witz alle ach so intellektuellen Gedankengebäude relativiert: „Ich bin nicht immer meiner Meinung.“

Das war sie sicher nicht, diese kämpferische Feministin, glänzende Literaturwissenschaftlerin, experimentierfreudige Publizistin und elegante Kranke, deren 2006 erschienener autobiografischer Notizenband „Älter werden“ es sogar auf die Bestsellerlisten schaffte.

Zwischen den Stühlen trifft man die nettesten Leute

Darin hat die 1946 in Bayern geborene und in Frankfurt am Main aufgewachsene Tochter aus gutem Hause auch erstmals über ihre Krankheit geschrieben. Im Alter von 24 Jahren wird bei der Studentin Multiple Sklerose diagnostiziert. Noch am selben Tag begräbt sie ihren Traum, Regisseurin zu werden, und wirft sich – immer wieder unterbrochen von langen Krankenhausaufenthalten – in die akademische Karriere. Die 1977 veröffentlichte Doktorarbeit der Adorno-Schülerin mit dem Titel „Die imaginierte Weiblichkeit“ gerät zur feministischen Pioniertat und macht sofort Furore.

Silvia Bovenschen belässt es nicht bei der Gedankenrevolte. An der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie später 20 Jahre lang Literaturwissenschaft lehrt, gründet sie 1968 mit gleichgesinnten Frauen den „Weiberrat“ und macht den studentenbewegten Machos mit Plakaten wie „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen“ die Hölle heiß. Gegenwind aus den eigenen Reihen muss sich die modisch stets tiptop zurechtgemachte Gelehrte trotzdem gefallen lassen: die rot lackierten Fingernägel und der kultivierte Duktus der Großbürgertochter sind der Latzhosenfraktion ein Dorn im Auge. „Mein Ort war immer zwischen den Stühlen. Und da trifft man die nettesten Leute“, hat sie diese Zeit hinterher resümiert.

Auch ihren Lebensmenschen, die Berliner Malerin Sarah Schumann, der sie 2015 das so ungemein diskrete wie zärtliche Erinnerungsbuch „Sarahs Gesetz“ widmet, lernt Silvia Bovenschen gewissermaßen im Kampfgetümmel kennen. Die Malerin veranstaltet Mitte der Siebziger eine ausschließlich der Kunst von Frauen gewidmete Ausstellung in Berlin, die sowohl von der Kulturszene wie von Feministinnengruppen angefeindet wird. Bovenschen setzt sich für die Schau ein, und eine große Liebe beginnt. Seit 2001 leben die durch die Krankheit zunehmend in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Schriftstellerin und die Malerin gemeinsam in Berlin-Charlottenburg, in einer Wohnung mit zwei getrennten Bereichen, die sie erst nach gegenseitigem Anklopfen betreten. Das passt zu Silvia Bovenschen, dieser kühlen Empfindsamen, die auch in ihren Büchern die heikle Balance zwischen Distanz und Nähe zelebriert.

Spiel- und Lebensfreude

Das Altern, der Tod, der imperfekte Körper – das sind ihre Themen der vergangenen Jahre, denen sie sich bei allem existenziellen Anspruch und aller Gedankenschärfe mit einem in deutschen Intellektuellenkreisen immer noch unüblichem Maß an Spiel- und Lebensfreude nähert. „Das wenige, was gut war an diesen Scheiß-Krankheiten: Sie haben mir innere Freiheit gegeben“, hat sie ihre späte Lust am Ausprobieren neuer literarischer Formen mal erklärt.

2013 erscheint nach dem Belletristik-Debüt „Verschwunden“ und den Krimis „Wer weiß was?“ und „Wie geht es Georg Laub?“ der tragikomische Roman „Nur Mut“. Die Heldinnen sind sonst eher unterbelichtete literarische Figuren – vier renitente alte Schachteln, deren Wohngemeinschaft in einer Großbürgervilla auffällig zufällig dem Milieu der Autorin entlehnt ist. Das Buch ist ein sich in einer erzählten Zeit von nur acht Stunden zuspitzender Spaß. Traurig, böse und gezeichnet mit ironischer Grandezza und dem heiteren Grimm, der so häufig die Lebens- und Schreibtemperatur dieser stolzen Frau bestimmt hat.

Fast unnötig zu sagen, dass Silvia Bovenschen selber starke Überempfindlichkeiten gepflegt hat. Erwartbare wie gegen Feigheit, Übergriffigkeit und Mittelmaß und auch überraschende wie gegen Heidi. Heidi? Jawohl. Johanna Spyris Romanfigur hat sie glühend gehasst, wie sie in einem im eingangs erwähnten Buch abgedruckten Vortrag „Idiosyncrasia und Nostalgia“ mit dem schönen Untertitel „Über den Schweizer als Verbrecher“ darlegt. Weil das Heidi so grundgut war! Das musste einem Kind ja missfallen, das offensichtlich früh geahnt hat, dass eben nicht die braven, sondern nur die bösen Mädchen überall hinkommen.

Am Mittwoch ist Silvia Bovenschen im Alter von 71 Jahren in Berlin gestorben. Nach Angaben des S. Fischer Verlags hat sie erst vor wenigen Wochen ihren nunmehr letzten Roman „Lug und Trug und Rat und Streben“ fertiggestellt.

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