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Gegenwart und Endlichkeit. Yves Bonnefoy (24. 6. 1923 – 1. 7. 2016).

© Eric Feferberg/AFP

Zum Tod von Yves Bonnefoy: Die Erde ist mein Himmel

Gesang von der grenzenlosen Fülle: Zum Tod des französischen Dichters Yves Bonnefoy.

Von Gregor Dotzauer

Mit dem 21. Jahrhundert sah er eine Zeit angebrochen, in der die Poesie womöglich untergehen werde. Und obwohl Yves Bonnefoy, der letzte Titan der französischen Dichtung, mit seiner Prophezeiung wahrscheinlich nicht recht behalten wird – weil sein Metier wie die Musik oder die Malerei zu den elementaren menschlichen Ausdrucksbedürfnissen gehört – verlieren die Wörter, die ihm heilig waren, doch schon lange ihr spezifisches Gewicht. Die Stoffe, die er zu durchdringen versuchte, leisten weniger Widerstand, und die Himmel und Erde umspannende Weiten, die er als Dichterdenker ergründete, gehorchen Gravitationskräften, die am stillen Pathos seiner Texte rütteln.

Man nehme nur seine beiden jüngsten, gerade bei Mercure de France erschienenen Bücher zur Hand, den Lyrikband „Ensemble encore“ und den autobiografischen Essay „L'écharpe rouge“ (Die rote Schärpe), in dem er über das Scheitern einer seit 1964 immer wieder vergeblich in Angriff genommenen „idée de récit“ nachdenkt, und man spürt sofort, dass auch diese scheinbar alterslose Stimme ihr Alter hat. Bonnefoy, am 24. Juni 1923 in Tours geboren, leugnete das nie. „Ich habe kein Bedürfnis, meinen historischen Moment zu beschwören, weil er schon alles strukturiert, wovon ich spreche“, erklärte er gegenüber dem Autor dieser Zeilen in einem schriftlichen Gespräch vor seiner letzten großen Berliner Lesung im Jahr 2011.

Yves Bonnefoy hatte Mathematik studiert, als er 1945 in Paris unter die Surrealisten geriet. Doch schon zwei Jahre später brach er mit André Breton, weil ihm dessen okkultistische Neigungen auf die Nerven gingen. „Du mouvement et de l’immobilité de Douve“ (auf Deutsch in „Beschriebener Stein“), sein lyrisches Debüt aus dem Jahr 1953, enthält im Gepräge eines alexandrinischen Grundmaßes, das später freieren, reimlosen Formen Platz machte, noch einige surrealistische Zuckungen.

Es entwirft aber auch schon die Chiffren, die Yves Bonnefoys Werk bis ins 21. Jahrhundert, zu „Les Planches Courbes“ (Die gebogenen Planken), durchziehen: die Flamme, die Lampe, die Orangerie, der Wind, das Eisen, der Rost, der Blitz, der Stein.

Seine Vorstellung von Wirklichkeit verband sich mit Wörtern wie Reinheit, Einfachheit, Fülle, Unmittelbarkeit, kurz: présence, aber auch mit einer unvermeidbaren Endlichkeit. Immanenz und Transzendenz der Welt waren dabei für ihn dasselbe. Bonnefoy lehnte die platonische Lehre ab, derzufolge jenseits der irdischen Erscheinungen ein Reich der Ideen beginnt. Er hielt es lieber mit Plotins Gedanken einer unteilbaren Welt, mit der dieser seinen Vorgänger interpretierte und korrigierte.

Poesie und Philosophie sind für ihn zweierlei

Zugleich beharrte Bonnefoy in seinen Auskünften darauf, poetische Chiffre und philosophischen Begriff zu trennen. „Die Poesie ist ein Versuch, der Wirklichkeit auf nichtbegriffliche Weise zu begegnen“, sagte er. „Mit ihren Wörtern trachtet sie danach, den direkten Bezug zur benannten Sache zu beleben, damit diese von ihrer begrifflichen Einkerkerung befreiten Gegenwarten für uns einen vollständiger bewohnbaren Ort ergeben.“

Eben deshalb lehnte er es auch ab, „alles auf den notwendigerweise begrifflichen Diskurs zu reduzieren, der die Wahrheit als Formel anbietet. Die Poesie ist ein Kampf gegen den Diskurs, das, was ich das gesprochene Wort (parole) nenne und seine Wahrheit.“ Yves Bonnefoy, Übersetzer von Shakespeare, William Butler Yeats und Giacomo Leopardi, stand wie kaum ein anderer Dichter für Poesie als eine existenzerschließende Kunst. In der Dimension dieses Anspruchs war er der letzte Nachfahr von Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und – mit erklärter Distanz – Paul Valéry, dessen Vorlesungen am Collège de France er besucht hatte, bevor er dort selbst Professor wurde.

Nichts in seinen Gedichten raunt, nichts ist per se hermetisch. Dennoch erschließen sie sich nur einer geduldigen Lektüre, die sich nicht von Bonnefoys feierlicher Anrufung der Dinge abschrecken lässt. „O Poesie“, heißt es etwa im „Trug der Wörter“, übertragen von Friedhelm Kemp, der die meisten Ausgaben von Bonnefoy bei Hanser und Klett-Cotta ausgezeichnet übersetzt hat. „O Poesie / dich zu nennen, ich kann nicht anders, / bei deinem Namen dich zu nennen, den / man unter denen nicht mehr liebt, die heute / irrwandern, wo das Wort zerfiel. / Ich wage es, dich anzureden, geradezu, / wie in den Zeiten der Beredsamkeit, da man / am Abend vor dem Festtag in den großen Sälen / die hohen Säulen mit Blatt- und Fruchtgewinden schmückte.“

In deutscher Sprache sind, nach Kemps Tod 2011, in der Übersetzung von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz zuletzt die Sonette „Streichend schreiben“ und der herkömmliche Genres überschreitende Band „Die lange Ankerkette“ erschienen – Texte voller Todesmotive, in denen ihr Autor einerseits mit Haut und Haar enthalten war, andererseits nur als Gefäß eines Stimmengewirrs auftrat,das längst nicht mehr ihm allein gehörte. „Meinem Gefühl nach haben wir umso mehr an der Universalität der menschlichen Existenz teil, je persönlicher wir sind“, erklärte er vor fünf Jahren. „Und persönlicher zu sein heißt, sich umfassender auf die eigene Endlichkeit einzulassen.“ Am vergangenen Freitag hat der 93-jährige Yves Bonnefoy das in Paris nun mit letzter Konsequenz getan.

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