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Kultur: Zum Wirken ist die Welt

Zwischen Arkadien und Utopien: Adolph Freiherr Knigges Werke, neu ediert

Wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation.“ Das ist ein berühmt gewordener Satz. Schiller platzierte ihn 1784 in seiner Rede über „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“, dem theoretischen und literarischen Höhepunkt der Nationaltheater-Debatte, die in der zweiten Jahrhunderthälfte die Hoffnung der Deutschen auf nationalstaatliche Einheit besonders lautstark verbreitete. Dass auch Adolph Freiherr Knigge an ihr teilgenommen hat, jener Autor, den viele heute noch im Munde führen, wenn sie sich einen „Manager-Knigge“ oder einen „Knigge für Autofahrer“ zulegen – das wissen selbst kundige Germanisten nur selten.

Inspiriert hat ihn dazu der Freund Großmann, einer der bedeutendsten Theaterleiter und Schauspieler der Zeit und erfolgreicher Dramatiker dazu. Von der Korrespondenz, die beide von 1779 bis kurz vor ihrem Tode führten (beide starben im selben Monat Mai 1796) sind meist nur Knigges Briefe erhalten geblieben, doch sie gehen detailgenau auf die Probleme ein, die den Praktiker Großmann bewegten. Mal sind es bis zur „schändlichsten Parodie“ misslungene Aufführungen, mal das eher bescheidene Talent eines „H. Storbäck“ für die Hamletdarstellung. Es geht um Gagen und Theaterstandorte, aber immer wieder auch um Anfeindungen, finanzielle Nöte, üble Nachrederei, von denen beide Freunde nicht verschont blieben.

Der kleine Band spiegelt den Alltag zweier bedeutender Intellektueller der Aufklärung, die sich auch in ihrer Parteinahme für die Ideen und sozialen Ziele der Französischen Revolution nahestanden. Von Knigges universellen Interessen zeigt der Briefwechsel mit Großmann zwar nur eine Randzone, doch eben darin die immer lebenspraktische Orientierung seines Denkens. „Nicht zum Spekulieren, zum Wirken ist diese Welt“, war sein Wahlspruch, und er wird nirgendwo so vollkommen eingelöst wie in dem Buch, das ihn so berühmt gemacht hat.

Im Jahre 1788, ein Jahr vor der Französischen Revolution, ist es in Hannover erschienen, und veränderte die bürgerliche Welt in Deutschland nicht radikal, aber langsam und stetig: „Über den Umgang mit Menschen“ heißt der zum geflügelten Wort gewordene Titel. Kein Benimmbuch, wie es die Bearbeitungen des späteren 19. Jahrhunderts nahelegen, die „Knigge“ auch heute noch im Titel führen, sondern ein Werk, das dem in Deutschland kulturell so darniederliegenden bürgerlichen Stande zu jener „Weltklugheit“ verhelfen sollte, „wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.“

Auch wirkte dieses Grundbuch bürgerlichen Lebens und Strebens deshalb so mächtig, weil es nicht nur die soziale Ordnung verändern wollte, wie das Knigges politische Schriften ganz offen propagierten, sondern schon über die Revolution hinausdachte. Nicht nur Bewegung, sondern neuen Halt sollte es bewirken. Deshalb ist es so erzählerisch angelegt, voller Anekdoten und gesättigt mit sozialer Erfahrung. Das Buch befindet sich in mehreren Ausgaben auf dem Markt, durfte aber natürlich in einer Werkausgabe nicht fehlen. Diese Neuedition ist nicht deren eigentliches Verdienst, zumal die Kommentierung sich aufs Notwendigste beschränkt und die Chance vertan wurde, dem Band das lang entbehrte Sachregister zu spendieren.

Knigge, der vom „Einfluss der Schriftstellerei auf Verstand, Herz und Sitten“ überzeugt war, hat seine größten Hoffnungen auf die in Deutschland noch unentwickelte Gattung des bürgerlichen Romans gesetzt. Einstmals viel gelesen, hat freilich der Erfolg des „Umgangs“ das Romanwerk schnell verdrängt und das in mindestens drei Fällen ganz zu Unrecht. Die „Geschichte Peter Clausens“ gehört dazu, seinerzeit viel übersetzt und als „Le Gil Blas allemand“ sogar in Frankreich erfolgreich, man liest auch heute noch gespannt die farbige, abenteuerliche, fast durchweg witzig und leicht geschriebene Geschichte einer Schelmenreise durch die Höhen und Tiefen der Gesellschaft. Der zweite Teil des Romans enthält ein Juwel: den Traum des Herrn Brick, eine der schönsten Sozialutopien der Aufklärung, in der sich Arkadien und Utopien rousseauistisch mit dem Wunschbild der glückseligen Insel verbinden.

In „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“ nimmt Knigge das Romanschema nochmals mit größerer satirischer Kunstfertigkeit auf: Motive und Muster des Abenteuerromans, lebensbedrohende Gefahren und wunderbare Rettungen begleiten Gesellschaftssatire und Sozialutopie. An exotischen Verhältnissen spiegelt sich europäische Realität so unterhaltsam wie politisch kompromisslos.

Der dritte Roman Knigges schließlich ist zugleich der heiterste, obwohl entstanden in der schlimmsten Leidenszeit, die sein Autor durchzumachen hatte und die erst mit seinem Tode wenige Jahre später endete. Eine Medizin, die sich der arme Herr Knigge selber verschrieben hatte: „Die Reise nach Braunschweig, ein komischer Roman“. Vier Honoratioren aus dem Dorf Biesterberg reisen mehrere Tage, um in Braunschweig den Aufstieg des berühmten Luftschiffers Blanchard mit dem Ballon zu erleben. Wie hier Missgeschicke, Entführungen, Zimmerverwechslungen, Liebesgeschichten, Irrungen und Wirrungen aller Art die Reisenden verfolgen, das spinnt Knigge mit schon fieldingscher Laune aus.

Ohne Vorläufer ist die neue vierbändige, von einem umfänglichen Herausgeberkreis verantwortete Edition nicht: „Ausgewählte Werke in 10 Bänden“ sind 1991 bereits erschienen, freilich mit unzureichender Kommentierung, dafür sehr viel reichhaltiger, also eher für Spezialisten als für ein größeres Publikum, an das die neue Ausgabe adressiert ist. Die Anhänge sind nicht überlastet, machen aber neben den Erläuterungen auch auf Verknüpfungen und biografische Zusammenhänge aufmerksam.

Michael Rüppel (Hg.): Adolph Freiherr Knigge – Gustav Friedrich Wilhelm Großmann. Briefwechsel 1779–1795. Mit einer Auswahl von Knigges Schriften zum Theater. 216 S., 29,90 €. – Adolf Freiherr Knigge: Werke. 4 Bände, 1835 Seiten, 49 €. Beide im Wallstein Verlag, Göttingen 2010.

Gert Ueding

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