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Am Dienstag in Moskau: Tausende Russen erweisen dem ermordeten Oppositionspolitiker die letzte Ehre.

© Reuters

Zur Beerdigung von Boris Nemzow: Trauer, die die Welt bewegt

Boris Nemzow, Lady Di, Peking 1976 – und Berlin 1848: Öffentliche Trauermärsche werden manchmal zu politischen Kundgebungen - mit historischen Folgen.

Es gibt Tode, die einen historischen Augenblick lang die Uhr stehen lassen. Der Mord an Boris Nemzow in Moskau war ein solcher Moment, auch die Anschläge im Januar in Paris. Totenstille kehrt ein, ungläubiges Entsetzen. Trauernde sammeln sich am Ort des Geschehens. Blumen werden niedergelegt – und dann wird die Stille lauter. Bewegt von Trauer und Empörung strömen Menschen von überall her, formieren sich zu Trauerzügen. Aus der Trauer wird eine politische Kundgebung, mitunter auch ein Gelöbnis.

Der Kreml genehmigte sogar einen Trauermarsch für Boris Nemtsov durch die Moskauer Innenstadt

Am Sonntag sammelten sich in Moskau und St. Petersburg Zigtausende zu Trauermärschen für Nemzow. Selbst der Kreml schien erstarrt zu sein angesichts seines hinterrücks ermordeten Widersachers und genehmigte eine Route durch die Moskauer Innenstadt. Und bei der Beerdigung am gestrigen Dienstag standen die Menschen bei eisiger Kälte stundenlang Schlange, um dem toten Oppositionspolitiker die letzte Ehre zu erweisen.

Zigtausende, heißt es in einigen Kommentaren, das seien in der Zehn-Millionenstadt Moskau eher wenige. Aber sind es nicht immer „wenige“, die Widerstand leisten? Es gehört Mut dazu, in dem von Pulverrauch und Weihrauch benebelten heutigen Russland der Lüge und dem Hass zu begegnen. Im demokratischen Paris, wo der Mord an den Zeichnern der SatireZeitschrift „Charlie Hebdo“ ganz Frankreich an liberté, égalité und fraternité gemahnen ließ, ist das naturgemäß anders. Die dortige Trauerkundgebung mit Gästen aus aller Welt wurde zum Weckruf für das zivilisierte Europa, angesichts neuer Bedrohungen die gemeinsamen Werte zu verteidigen.

Das Blumenmeer vor dem Kensington Palace als Trauermanifestation für Lady Diana, die im August 1997 tödlich verunglückt war. Die Queen beehrte die Trauerzone erst, nachdem die Briten sie dazu lautstark aufgefordert hatten.
Das Blumenmeer vor dem Kensington Palace als Trauermanifestation für Lady Diana, die im August 1997 tödlich verunglückt war. Die Queen beehrte die Trauerzone erst, nachdem die Briten sie dazu lautstark aufgefordert hatten.

© dpa

Trauer, die die Welt bewegt: Immer wieder werden Trauerzüge zum politischen Akt, zur Manifestation der Ohnmächtigen gegenüber der Macht eines Regimes, einer Willkür-Herrschaft – wie etwa im Iran zu Zeiten der Grünen Bewegung. Nicht selten werden Trauermärsche auch zum Anlass für gesellschaftlichen Wandel. Aus der jüngeren Geschichte sei hier an drei Beispiele erinnert, an drei denkbar unterschiedliche Fälle von öffentlichem Trauern und dessen Folgen.

Der Buckingham Palast wollte Lady Di nicht die letzte Ehre erweisen - das führte zu Protesten

Als Lady Di am 31. August 1997 tödlich verunglückt, wird auf allen öffentlichen Gebäuden Großbritanniens halbmast geflaggt, nicht aber vor dem Buckingham Palace. Das Hofprotokoll sieht Beflaggung nur bei Anwesenheit der Königin vor, die Queen weilt jedoch in ihrer schottischen Sommerresidenz – kein Zeichen der Anteilnahme von dort. Der Unmut wächst, und mit ihm der Blumenberg vor dem Palast. „Hoheit, haben Sie kein Herz?“, so die Schlagzeilen. Widerstrebend beugt sich die Queen, lässt halbmast flaggen, beehrt am Tag vor der Trauerfeier stumm das Blumenmeer und hält eine Fernsehansprache. Drei Millionen Menschen geben Princess Diana auf dem Weg zur Westminster Abbey das letzte Geleit.

Ein Ereignis nur für die bunten Blätter? Wie sehr es einen Wandel der britischen Gesellschaft und ihrer Monarchie bewirkt hat, ließ sich etwa bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 2012 in London beobachten. Wer hätte der Queen den Fallschirmsprung vom Helikopter ins Olympiastadion zugetraut? Die Mischung aus Stolz und Selbstironie, etwa beim Empfang von Daniel Craig als James Bond im Buckingham Palace?

Iran im Dezember 2009. Tausende tragen den Dissidenten Ayatollah Hossein-Ali Montazeri in Qom zu Grabe, der mit 87 Jahren starb. Die Trauerkundgebung wurde zum politischen Protestzug.
Iran im Dezember 2009. Tausende tragen den Dissidenten Ayatollah Hossein-Ali Montazeri in Qom zu Grabe, der mit 87 Jahren starb. Die Trauerkundgebung wurde zum politischen Protestzug.

© dpa

Peking, 20 Jahre zuvor. Am 8. Januar 1976 stirbt Chinas langjähriger Ministerpräsident Tschou En-lai, der nach der Kulturrevolution gemeinsam mit Deng Xiaoping Reformen eingeleitet hat. In die Trauer mischt sich Sorge um die Zukunft, denn die „Viererbande“ um Maos Witwe drängt an die Macht. Also tragen die Menschen Trauerbilder Tschou En-lais und Kränze aus Papierblumen zum Platz des Himmlischen Friedens und sammeln sich auf das Gerücht hin, der Verstorbene solle heimlich bestattet werden, längs des OstWest-Boulevards vom Kaiserpalast bis zum Friedhof Babaoshan. Tausende Menschen, Tag und Nacht, bei eisiger Kälte, eingepackt in blaue und olivgrüne Wattejacken – bis die Regierung einlenkt. Tschou erhält ein letztes öffentliches Geleit.

Der Trauerzug für Zhou Enlai führte letztlich zum Sturz der "Viererbande"

Es ist die erste spontane demokratische Regung der Chinesen nach der Kulturrevolution. An Chinas Volkstrauertag versammeln sich im April erneut Hunderttausende auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu demonstrativer Trauer. Die Kundgebung wird nach drei Tagen gewaltsam beendet und Deng Xiaoping als angeblicher Drahtzieher aus allen Ämtern entlassen. Letztlich jedoch führten diese Demonstrationen der Volkstrauer zum Sturz der „Viererbande“, zur Rückkehr Deng Xiaopings, zu marktwirtschaftlichen Reformen, zur Öffnung des Landes und zum historischen Wiederauftritt Chinas auf der Weltbühne.

Drittes Beispiel: Berlin 1848. Mit dem Wiederaufbau des Stadtschlosses erlebt auch ein Erinnerungsort deutscher Demokratie seine Wiederauferstehung. Die Revolution von 1848 mit ihrer Forderung nach Freiheit und nationaler Einheit erlebte hier am 18. März ihren Höhepunkt: In ganz Europa herrscht revolutionäre Stimmung, und die Berliner strömen zum Schloss, um dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. zu huldigen – er hat eine Verfassung versprochen. Doch als die friedliche Menge immer größer wird, befiehlt der König, den Platz zu räumen. Aus der Freiheitskundgebung wird ein Barrikadenkampf mit über hundert Toten.

Am 19. März werden die Toten auf dem Schlossplatz aufgebahrt. Das Volk will den König sehen. „Totenbleich“, so berichten Augenzeugen, stellt sich Friedrich Wilhelm IV. den Aufständischen. Neben ihm weint die Königin: „Nun fehlt nur noch die Guillotine“. Das Militär erhält den Befehl „Helm ab!“ Der König aber muss sich den Rufen „Hut ab! Hut ab!“ beugen und den Toten der demokratischen Revolution die Ehre erweisen.

An die Märzrevolution von 1848 erinnert das Datum der ersten freien Volkskammerwahl nach dem Fall der Mauer am 18. März 1990. So vollendet die friedliche Revolution die umkämpfte Freiheit und Einheit Deutschlands, wird zum Teil der langen Geschichte der Demokratie und Einheit Europas. Die europäische Revolution in Mittel- und Osteuropa aber ist unvollendet geblieben. Sie tritt jetzt in eine neue Etappe.

Florian Mausbach leitete von 1995 bis 2009 das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnun und lebt als Publizist in Berlin.

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