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Operndiva Anna Netrebko, hier bei einer Probe für den Wiener Opernball 2019.

© / Reuters/Leonhard Foeger

Zur Frage des Boykotts : Wie hältst du’s mit der russischen Kultur?

Sind Tolstoi und Tschaikowsky vom Angriffskrieg gegen die Ukraine infiziert? Warum es wichtig ist, die Debatte auch weiter zu führen.

Eine Kolumne von Christiane Peitz

Seit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 streitet die Kulturwelt über Boykottforderungen. Tolstoi und Schostakowitsch, Netrebko und Gergiev, wie halten wir es mit ihnen?

Kürzlich veröffentlichte die ukrainische Regierung eine Sanktionsliste mit den Namen von hundert Personen des öffentlichen Lebens, darunter auch die Starsopranistin Anna Netrebko. Sie hat sich gegen den Krieg positioniert, aber viele Äußerungen des Putin-Protegés klingen halbherzig. Die in Wien lebende Sängerin, die an der dortigen Staatsoper wieder als Aida auftritt, gilt auch in Russland als Verräterin, sie bekommt dort keine Engagements. So einfach, so kompliziert.

Die Berlinale gibt an diesem Montag ihr Hauptprogramm bekannt. Werden dort auch russische Titel laufen, zum Beispiel von Dissident:innen? Ukrainische Filmschaffende fordern einen Komplettboykott. Sie protestierten auch, als das Festival in Cannes im Mai einen Film des Putin-Kritikers Kirill Serebrennikow zeigte, obwohl der Moskauer Regisseur von einem Oligarchen finanziert worden war.

Am Donnerstag startet „Petrov‘s Flu“ im Kino, Serebrennikows vorletzter Film. Darin ist die Titelfigur von einem schweren Grippevirus befallen, Petrov kann Realität und Halluzination nicht mehr unterscheiden.

Der Krieg, die Kunst, was wiegt mehr? Die internationale Ballettszene, geprägt von der russischen Tradition, von russischen Stars und Ensembles, steckt in einem Dilemma. Bei aller Ambivalenz sollte klar sein: Wer sich unmissverständlich gegen Putin und seinen Angriffskrieg stellt, dem gebührt Solidarität. Etwa dem russischen, in der Ukraine aufgewachsenen Choreografen Alexei Ratmansky, der seine Bolschoi-Proben mit Kriegsbeginn abbrach und nicht mehr in Russland auftritt.

„Ich möchte Tschaikowsky nicht Putin überlassen“, sagt er gleichwohl. Wir alle dürfen Putins Opfer nicht mit der Frage allein lassen, wo die moralische Grenze verläuft. Der im Schweizer Exil lebende Schriftsteller Michael Schischkin empfahl dieser Tage in der „Faz“ die Lektüre von Thomas Manns Briefen aus dem Exil, in denen sich Mann angesichts der NS-Gräuel mit seiner Liebe zur deutschen Kultur herumschlägt. „Nun müssen auch wir Russen unsere Literatur durch das Prisma des Ukrainekriegs neu lesen“, so Schischkin. Die „imperialistischen Untertöne unserer großen Romane“ nehme man nun anders wahr.

Der Krieg verändert die Kunst, so wie die Gegenwart die Vergangenheit verändert, etwa mit Blick auf Kolonialismus, Diskriminierung und Unrecht. Nur mit solch wachem Blick lässt sich Tschaikowsky dem Kriegstreiber Putin entreißen.

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