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ZUR PERSON: Du bist nicht allein

Unter den Denkmälern deutscher Tonkunst ragt Bachs Matthäus-Passion besonders hoch auf: gen Himmel strebend wie die gotischen Pfeiler der Leipziger Thomaskirche, ein Heiligtum der Sakralmusik, dem man andächtig lauscht. Kein Stück eigentlich für Peter Sellars.

Unter den Denkmälern deutscher Tonkunst ragt Bachs Matthäus-Passion besonders hoch auf: gen Himmel strebend wie die gotischen Pfeiler der Leipziger Thomaskirche, ein Heiligtum der Sakralmusik, dem man andächtig lauscht.

Kein Stück eigentlich für Peter Sellars. Der amerikanische Regisseur mit dem markanten Haarschopf neigt nicht zum Anbetungstheater. Er will bewegen, Kunst körperlich spürbar machen. Der direkte Kontakt mit dem Gegenüber ist ihm das Wichtigste – selbst beim Interview drängt es Sellars, den ihm völlig unbekannten Journalisten stürmisch zu umarmen. Der Regisseur braucht unmittelbaren Zugang zu seinem Gegenüber, die Aug-in- Aug-Kommunikation. Genau darum geht es in seiner „Ritualisierung“ der MatthäusPassion, die er am morgigen Sonntag bei den Salzburger Osterfestspielen herausbringt, bevor sie ab 9. April in der Berliner Philharmonie zu erleben ist. Simon Rattle, der Rundfunkchor und die Philharmoniker sind dabei seine Partner.

Anders als bei der Matthäus-Passion, die Götz Friedrich und Günther Uecker 1999 als realistisches Musiktheater auf die Bühne der Deutschen Oper stellen, wird es in Sellars Version weder Lichtregie geben noch Bühnenbild und Kostüme. Sein Gestaltungsmittel ist der Blickkontakt zwischen denen, die musikalisch miteinander reden. Alle Beteiligten mussten die Partitur auswendig lernen, nicht nur die Solisten und Choristen, sondern auch die Orchestermusiker. So kann Sellars sie frei im Raum bewegen.

Ein grandioser Luxus. Seit sechs Wochen arbeitet Sellars mit den Künstlern, am Ende wird Rattle sieben Aufführungen mit zwei unterschiedlichen Orchestern an drei verschiedenen Orten dirigiert haben. Die Matthäus-Passion ist Neuland für ihn, ebenso wie für den Regisseur. „Natürlich ist Simon nervös“, erzählt Sellars. Deshalb hat er zwei Voraufführungen mit seinem früheren Orchester in Birmingham absolviert – und seinen Interpretationsansatz nochmals radikal überdacht. Eine Haltung, die Sellars besonders schätzt: „Er arbeitet immer ergebnisoffen.“ Weil er weiß, dass es eine definitive Interpretation bei einem so komplexen Werk wie der Matthäus-Passion nicht geben kann. „Rattle hat Bach nicht mit der Muttermilch aufgesogen, seine Muttermilch waren Mozart und Strawinsky. Er hört Bach mit Strawinsyks Ohren, vor allem bei den Dissonanzen, geht keiner Schwierigkeit aus dem Weg und zaubert unerhörte Klangfarben. Er sagt immer: Hoffentlich hören sich unsere Enkel später mal unsere Aufnahme an und sagen: Mein Gott, was machen die denn da?“ Die musikalische Deutung wird also ein Experiment, genau wie Sellars’ Inszenierung. „Eine Hauptaufgabe besteht darin, die Mitwirkenden locker zu machen“, berichtet er von den Proben. „Die musikalischen Kontraste werden nur dann erlebbar, wenn die Sänger sie ganz konkret in ihren Körpern spüren. Bach liebt Kontraste, wie ein Gruselfilm-Regisseur.“

Die Kunstform des szenischen Konzerts hat Peter Sellars in den vergangenen zehn Jahren zu seiner Spezialität gemacht. Vor allem in Los Angeles sind diese Visualisierungen entstanden, in Frank Gehrys neuer Konzerthalle, deren Innenraum der Philharmonie nachempfunden ist. Auf der breiten Guckkastenbühne des Salzburger Festspielhauses wird man an diesem Wochenende also noch ein work in progress erleben, die definitive Fassung ist erst im offenen 360-Grad-Raum des Scharoun-Baus möglich. Hier kann Sellars die Dramaturgie des Werks sichtbar machen: Wenn Bach zwei Orchester und zwei Chöre gegeneinandersetzt, wenn er von der größtmöglichen Besetzung plötzlich zum intimen Trio wechselt, wenn das Unisono der Choräle mit den emotionalen Ausbrüchen der Solisten kontrastiert. Oder wenn der Einzelne von der Masse aus seiner Meditation gerissen wird.

In den Arien stellt Bach den Sängern, die sich in ihrem Schmerz entäußern, oft Instrumentalisten als Begleiter zur Seite – der ihm aber auch mal ins Wort fällt. Wenn Thomas Quasthoff davon singt, dass er Jesus die Bürde des Kreuzes abnehmen will, wird er auf Schulterhöhe der Gambistin Hille Perl sitzen. Weil sie es ist, die das Kreuz trägt: bildlich, wenn Instrument und Bogen einen rechten Winkel bilden, aber eben auch musikalisch.

„Ja, es ist ein logistischer Albtraum“, gibt Peter Sellars zu. „Nur im zweiten Akt aus Mozarts Figaro ist das Timing noch heikler.“ Doch wenn man registriert, was genau Bach komponiert hat – bis hin zu Auftritts- und Abgangsmusiken für die Solisten –, entsteht eine sinnhaft sprechende Aufführung, die nicht allein die Seele berührt, sondern einem auch in die Knochen fährt, davon ist Sellars überzeugt.

Leidenschaftlich kämpft der Regisseur gegen die Dominanz der Psychoanalyse in der heutigen Gesellschaft. Die Fokussierung auf das Ego hält er für einen Irrweg. Zu Bachs Zeiten definierte sich der Mensch durch das, was er für die Gemeinschaft tun konnte. Eine Erfahrung die in unserer säkularisierten Zeit, zumindest rudimentär, noch in der Oper zu spüren ist, die als Gesamtkunstwerk nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten akzeptieren, dass sie ohne andere hier gar nichts ausrichten können.

Ein solches Kollektiverlebnis wünscht sich Sellars auch für die Matthäus-Passion. „Heute sind Museen, Theater und Konzertsäle unsere Kirchen, Orte, an denen es noch ruhig ist, an denen man in Dialog tritt, mit sich oder anderen.“ Dazu muss man die sakralen Werke aber von den religiösen Dogmen loslösen. „Konsens ist doch öde, der Widerspruch ist doch die wahre Quelle des Vergnügens“, findet Sellars. „Kein großer Künstler hat sich orthodoxen Regeln unterworfen, Michelangelo nicht, Bach nicht.“ In der gesamten Geschichte musste die Theologie stets durch Bilder, Poesie und Musik befreit werden. „Wie viel öfter singen die Chöre von den Gliedmaßen Jesu als von seinem Geist!“, ereifert sich der Regisseur. „ Hören Sie sich nur mal Jesus’ himmlische Tafelmusik bei der Eucharistie an: Hier schmeckt ihr köstliche Speisen – aber testet erst einmal das Essen bei meinem Vater!“

Menschen, die bei der Andacht immer nur auf die eigenen Füße starren, sollen den Blick gen Himmel richten. So wie in der Sixtinischen Kapelle. Was anstrengend sein kann für die untrainierten Nackenmuskeln. Aber eben auch erhebend. Plötzlich wandelt sich das Wort zur Tat. Nicht die Auslegung der Bibel steht im Vordergrund, sondern das Miteinander, der Blick für die anderen, die Überwindung der Ichbezogenheit. In der Matthäus-Passion wird viel von Mitleid gesungen – ein Schmerz, der sich in Hoffnung wenden kann. In Birmingham, erinnert sich Sellars, hatte das Stück plötzlich fast ein Happy End: „Es entstand dieses Gemeinschaftsgefühl, das einen tragen kann, so wie bei einem Begräbnis, bei dem man sich im Idealfall ja hinterher auch besser fühlt.“

Peter Sellars will die Matthäus-Passion vom statischen Pathos befreien, nicht aber von der markerschütternden Tragik. Das Publikum soll die Choräle nicht mitsingen, wie zu Bachs Zeiten, aber der Regisseur wünscht sich, dass jeder im Saal die Aufführung nutzt, um in sich zu gehen und einmal nicht sich selber, sondern seinen Platz in der Gesellschaft zu reflektieren. Zwölf Mal bittet der Chor mahnend um „Geduld“. Geduld für die zweite Chance – um es noch einmal zu versuchen, mit Nächstenliebe.

Peter Sellars, 1957 in Pittsburgh geboren, zählt zu den weltweit bedeutendsten Regisseuren. Nach dem Studium in Harvard debütierte er 1980 in New York als Regisseur. Bereits drei Jahre später wurde er Intendant in Boston. Als Opernregisseur wurde Sellars durch Mozarts Da-Ponte-Trilogie bekannt, die auch im amerikanischen Fernsehen gezeigt wurde.

Zuletzt inszenierte er Wagners „Tristan und Isolde“ in Paris, Shakespeares „Othello“ in Wien sowie John Adams „The Flowering Tree“ in New York. Die Uraufführung von Adams’ Oratorium hatte Sellars 2006 mit Simon Rattle, dem Rundfunkchor Berlin und den Philharmonikern realisiert.

Die Aufführungen der Matthäus-Passion in Berlin vom 9. bis 11. April sind ausverkauft.

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