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Ein Seher. Ian McEwan, 65, hat mit 13 Jahren schon Fotos von der Mauer gemacht. Foto: AFP

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ZUR PERSON: „Wir sind alle Spione“

Lesen und Leaks: Ian McEwan über die CIA, seinen neuen Roman „Honig“ – und was ihn mit Berlin verbindet.

Mr. McEwan, „Honig“ ist Ihr zweiter Spionage-Roman nach „Unschuldige“. England in den 70er Jahren, die junge Akademikerin Serena heuert beim Geheimdienst an und bietet einem Schriftsteller ein vom MI 5 finanziertes Stipendium an. Sie verliebt sich und muss ihre wahre Identität verbergen. Warum immer wieder Spione?

Dank Ian Fleming, John Le Carré, Graham Greene oder Somerset Maugham, die ja selber beim Geheimdienst arbeiteten, ist der Spionageroman ein etabliertes Genre. Genres gehorchen Regeln, das macht sie attraktiv, denn Regeln sind der Motor der Kreativität. Außerdem hat der Stoff selber es in sich. Im Kalten Krieg hat die CIA heimlich Kultur und Kunst finanziert, mit hunderten Millionen von Dollar. Das Ziel war, linke Intellektuelle in Europa davon zu überzeugen, dass der Westen der bessere Teil der Welt war. Sie sollten davon abgebracht werden, mit dem Kommunismus zu liebäugeln.

Sie haben sich öfter darüber beklagt, dass kaum ein deutscher Schriftsteller über die Mauer schrieb, außer Peter Schneider in „Der Mauerspringer“. In „Honig“ legen Sie diese Klage Ihrem jungen Alter Ego in den Mund, dem Schriftsteller Tom Haley.

Ich habe weniger geschimpft als gestaunt: Was für ein Thema und niemand schreibt darüber! Wenn Menschen merken, dass sie mit ihrem Gegner einer Meinung sind, glauben sie oft, dass sie sich irren – interessant! Übrigens hatte die CIA einen sehr guten Geschmack. Ich verstehe zwar nicht, wieso man im Geheimen agiert, wenn man die offene Gesellschaft propagieren will, aber sie finanzierten Neue-Musik-Festivals, Ausstellungen zum Abstrakten Expressionismus, Zeitschriften wie „Encounter“ in England oder „Der Monat“ in Deutschland …

… in der unter anderem Thomas Mann, Adorno, Hannah Arendt und Heinrich Böll schrieben. „Encounter“ druckte eine Ihrer Kurzgeschichten.

Aber erst 1974, da war die Sache bekannt und die CIA hatte sich zurückgezogen. Spione, die die Imagination unterwandern wollen, das interessierte mich. Und die Vorstellung, dass die Imagination sich rächt. Der britische Auslandsgeheimdienst MI 6 hat George-Orwell-Übersetzungen bezahlt, in 17 oder 18 Sprachen. Hat die Literatur da nicht umgekehrt vom Geheimdienst profitiert?

Durch Edward Snowdens Enthüllungen sind die Geheimdienste noch mehr in Verruf geraten. Was sagt der literarische Spionage-Experte zum NSA-Skandal?

Ich bin alarmiert. Wir benutzen täglich ausgefeilte Kommunikationstechnologien, das macht uns verletzlicher. Wir fangen an zu realisieren, wie kompliziert die alte Frage von Freiheit und Sicherheit geworden ist. Klar, wir brauchen Schutz, aber wir brauchen auch geschützte Privaträume – ein fragiles Gleichgewicht, das gekippt ist. Dieselbe US-Regierung, die Snowden den Prozess machen möchte, erwägt nun die Einrichtung einer Kommission zur Kontrolle der NSA. Das heißt, sie erkennt an, dass er der Öffentlichkeit einen großen Dienst erwiesen hat. Er hätte nicht in Russland Asyl beantragen sollen, sondern in Deutschland. Ein deutsches Gericht könnte sagen: Wir sehen, was mit Bradley Manning geschehen ist ...

... dem Whistleblower, der Wikileaks Geheimdokumente der US-Army zuspielte.

Manning wurde vor seiner Verurteilung zu 35 Jahren Haft unter unmenschlichen Haftbedingungen festgehalten und misshandelt. Die Deutschen hätten sagen können: Dem amerikanischen Rechtssystem ist nicht zu trauen, es missachtet die Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention. Aber wer weiß, ob der deutsche Geheimdienst den Amerikanern nicht einen Gefallen schuldet und ihn vielleicht doch ausgeliefert hätte.

Wie geht es Ihnen denn bei dem Gedanken, dass mit Programmen wie Prism oder XKeyscore auch unsere Fantasien ausspioniert werden können?

Wir müssen uns über unseren eigenen Anteil im Klaren sein. Wir sind begeistert in dieses große Becken namens Internet gesprungen, wir schimpfen sofort los, wenn wir mal keinen Internetzugang haben. Offenbar wollen wir die ganze Zeit ausspioniert werden! Dennoch ist die bloße Möglichkeit des Ausspähens besorgniserregend, sie bedeutet Macht, und Macht muss berechenbar bleiben. Auch Manning hat seinem Land übrigens einen Dienst erwiesen, ich habe etliche der veröffentlichten diplomatischen Depeschen gelesen und war beeindruckt. Praktisch alle amerikanischen Diplomaten, die in nicht-demokratischen Ländern arbeiten, äußern sich mit deutlicher Antipathie über die Tyrannen dieser Welt. Selbst wenn es offizielle Verbündete Amerikas sind, wie Saudi-Arabien. Nirgendwo auch nur eine Spur von Heuchelei. Manning hat niemandem ernsthaft geschadet.

Warum sagen Sie, alle Romane sind Spionageromane, alle Autoren Meisterspione?

Weil auch wir das Verhalten der Menschen insgeheim registrieren. Ich bin ein bisschen wie ein Beamter im Propagandaministerium. Bestimmte Informationen enthülle ich, andere halte ich zurück, manchmal führe ich den Leser bewusst in die Irre oder gaukle ihm die Illusion eines glaubwürdigen Erzählers vor. In „Honig“ geht es die ganze Zeit um die Frage: Wer erzählt hier eigentlich?

Toms Erzählungen, die im Roman zitiert werden, das sind Ihre Stories von früher.

Ich habe sie etwas verbessert, hat aber keiner gemerkt. Auch verworfene Plots sind dabei, Ideen aus alten Notizbüchern.

Mögen Sie im Rückblick den jungen Mann, der Sie damals waren?

Den Schriftsteller oder die Person?

Ist das ein großer Unterschied?

Oh ja, als Autor war ich Existenzialist. Ich schrieb diese finsteren Geschichten, sehr klar, sehr präzise. Aber anders als heute ließ ich vieles weg, was mich eigentlich interessierte, Geschichte, Wissenschaft, Musik, die Liebe. Aus einer Art ästhetischen Ideologie heraus, der viele Autoren meiner Generation anhingen. Das hatte schreckliche Folgen. Gute Romane müssen spezifisch sein, genau verortet. Nur dann ist das Erzählte verallgemeinerbar.

Wann änderte sich das bei Ihnen?

Mein Freund Martin Amis und ich erfanden die typische literaturprogrammgeförderte Erzählung. Der Autor hatte einen deutsch-italienisch-französischen Namen, die Auflage betrug nicht mehr als 200, aber das Buch gewann sämtliche Preise. Es handelte von einem Mann, dessen Name nicht genannt wird, der in einer Stadt, die nicht näher beschrieben wird, in einem Hotelzimmer auf den Anruf von jemandem wartet, den er nicht kennt und der ihm etwas mitteilt, was der Leser nicht erfährt. Während er wartet, starrt er an die Wand. Wir schrieben viele solcher „An die Wand starren“-Romane. Eine Selbstparodie – ich fing langsam an, mich von der Wand abzuwenden.

„Honig“ handelt vom Prozess des Schreibens, Lesens und Gelesenwerdens: Haben Sie darüber etwas Neues herausgefunden?

Ich wollte immer wissen, welchen Unterschied es bei der Lektüre macht, ob ich den Autor kenne oder nicht. Wenn ich den Roman eines Freundes lese ...

... zu Ihren Schriftsteller-Freunden gehören auch Salman Rushdie, Timothy Garton Ash, der verstorbene Ian Hamilton ...

… dann höre ich ihre Stimme. Romane sind sehr persönliche Texte, man exponiert sich. Folglich gehört zur Lektüre der vulgäre Impuls, über die Person dahinter zu spekulieren. Als soziale Wesen „lesen“ wir einander ja auch unentwegt, entziffern die Körpersprache, die Nuancen in der Stimme. Wir sind alle Spione.

Haben Sie Angst, Ihrerseits mithilfe Ihrer Texte ertappt zu werden?

Früher ja, heute nicht mehr. Wenn ich umgekehrt Details realer Personen in der Fiktion verwende, versuche ich sie zu tarnen. Es gibt skrupellosere Schriftsteller, nicht die schlechtesten übrigens, Saul Bellows oder John Updike. In den 70er Jahren gab Philip Roth mir einen Rat: „Schreib immer so, als ob deine Eltern schon tot wären.“ Ein bisschen rücksichtslos muss man sein, ich versuche, dabei so höflich wie möglich zu bleiben.

Die Wohnung in „Saturday“ war Ihre eigene Londoner Wohnung. Hat Ihre Familie da nicht protestiert?

Ich habe es ihnen vorher gezeigt, sie waren einverstanden. Der Sohn des Helden trägt die Gesichtszüge meines jüngeren Sohns, so etwas hatte ich noch nie gemacht. Ich zeigte ihm das Manuskript, bat ihn um Erlaubnis. Er war hocherfreut.

In „Honig“ tauchen reale Personen auf, Martin Amis, ihr früherer Verleger Tom Maschler. Eine britische Zeitung schrieb, dass die Figur von Serena Ihrer ersten Liebe aus Ihrer Universitätszeit in Sussex gleicht, Polly Bide, die inzwischen tot ist.

Martin musste ich nicht um Erlaubnis fragen, so gut wie er wegkommt in der Szene, in der er der Star eines Leseabends in New York ist. Tom Maschler habe ich alles vorher geschickt. Das mit Polly Bide stimmt nicht, Serena gleicht ihr überhaupt nicht. Ich schrieb einen Brief an ihre Kinder, die ich sehr schätze: Ich versichere euch, Serena ist nicht eure Mutter. Als Schriftsteller bekommt man es immer mit der Wirklichkeit zu tun: Ich erfand den Namen Tom Healy, im Roman lehrt er in Sussex. Dann stellte sich heraus, dass es heute in Sussex tatsächlich einen Literaturdozenten diesen Namens gibt, also änderte ich ihn in Haley. Als mir Healy kürzlich eine Auszeichnung überreichte, war er ganz enttäuscht, dass ich es nicht bei seinem Namen belassen hatte. Wie man es macht, ist es falsch!

Und welche Beziehung haben Sie zu Ihren Romanfiguren?

Man verliebt sich in sie, es ist ein langsamer Prozess. Wenn das Buch dann veröffentlicht ist und wir hier im Interview über eine Figur wie über eine Person sprechen, die wir beide kennen, dann hüpft mein Herz. Sie ist lebendig geworden! Ich gehe zu einer Lesung, jemand erwähnt Briony aus „Abbitte“ oder Henry Perowne aus „Saturday“ – ach, dann gibt es einen Vogel in meinen Hinterkopf, der zwitschert vor Freude.

Und was, wenn die Wirklichkeit zurückschlägt? Sie beenden Ihren Berlin-Roman „Unschuldige“ mit Spionagetunneln von West- nach Ost-Berlin, prompt fällt die Mauer. Sie schreiben „Saturday“ über die Terrorangst nach 9/11, kurz danach gibt es in London Terroranschläge.

Ich bin bestimmt kein Prophet. Als ich an „Unschuldige“ arbeitete, wusste ich, dass der Kalte Krieg bald vorbei ist, denn ich war als Mitglied der Gruppe „European nuclear disarmement“ in Russland gewesen. Wir setzten uns dafür ein, dass die russische Friedensbewegung von der Regierung nicht länger verfolgt wird und hatten Zugang zu hohen Politikern. Wir sprachen mit ihnen über Perestroika und Glasnost, und es war offensichtlich, dass Gorbatschows Liberalisierungsprozess außer Kontrolle geraten würde, sobald er verfügt hatte, dass keine Gewalt gegen Dissidenten mehr angewendet werden soll. Ich war dann zur 750-Jahr-Feier Berlins hier in der Stadt und bin mit einem Freund, meinem Übersetzer Bernhard Robben, an der Mauer entlanggeradelt.

Sie waren schon als Junge in Berlin.

Mit meinem Vater, einem Armeeoffizier. Ich war 13, hatte meine erste Kamera geschenkt bekommen und machte Unmengen Fotos von der Mauer. Kürzlich fand ich einige der Bilder, ich finde sie so gut, dass ich mich frage, ob sie wirklich von mir stammen. Ende der Achtziger hatte ich dann das klare Gefühl, es kann nicht mehr lange dauern. Mit diesem Gefühl schrieb ich „Unschuldige“. Als dann die Mauer fiel, war es nicht leicht, einen Flug zu bekommen, aber am 10. November war ich wieder hier.

Sie sind ein Nachrichten-Junkie. Muss ein Schriftsteller sich für seine Arbeit nicht aus der Realität zurückziehen?

Jetzt, wo ich hauptsächlich auf dem Land in der Nähe von Oxford lebe, lese ich Zeitungen meistens auf dem iPad. Wenn ich morgens um neun die „Herald Tribune“ lese, denke ich, stand das nicht gestern schon in der „New York Times“ und vorgestern im Netz? Um schreiben zu können, muss ich viel Nein sagen. Täglich kommen sechs, sieben Einladungen zu Veranstaltungen mit großartigen Leuten an großartigen Orten. Man muss zu Hause bleiben können, aber ab und zu muss man raus. Timothy Garton Ash liest keine Mail vor 14 Uhr, das schaffe ich selten. Es gibt eine tolle Software namens „Freedom“, da kann man eingeben, wie viele Stunden die Mails und das Internet blockiert werden sollen. Der Computer verwandelt sich wieder in eine Schreibmaschine. Dummerweise mache ich von „Freedom“ noch nicht genügend Gebrauch.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

Der britische Schriftsteller Ian McEwan, 1948 in Aldershot geboren, ist einer der renommiertesten Autoren seines Landes.

Seine bekanntesten Romane sind „Der Zementgarten“ (1982), „Unschuldige“ (1990), „Abbitte“ (2001), „Saturday“ (2005) und „Solar“ (2010). Er beschäftigt sich mit Gegenwartsthemen wie dem Klimawandel oder der Angst vor dem Terror, für seinen Politroman Amsterdam erhielt er 1998 den Booker-Preis. Er schrieb auch Drehbücher und Erzählungen, mehrere seiner Romane wurden erfolgreich verfilmt.

Wir trafen den 65-Jährigen in einem holzvertäfelten Konferenzraum im Berliner Soho House, in dem man hinter jedem Wandschrank Abhörwanzen vermutete. Nicht zuletzt, weil sein jüngster Roman „Honig“ in der Welt des britischen Geheimdienstes spielt.

McEwan lebt mit seiner Frau, der Journalistin und Schriftstellerin Annalena McAfee auf dem Land bei Oxford und in London.

Seine Bücher sind auf Deutsch bei Diogenes erschienen, auch Honig (Aus dem Engl. von Werner Schmitz, 448 S., 22,90 €).

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