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Kultur: Zurück zur Natur

Am Anfang waren die Skrupel. Früh habe Händel im Zentrum seines Musikerlebens gestanden, schreibt Marc Minkowski, nur um den "Messias" habe er einen weiten Bogen gemacht: "Überall und immer wieder gab es Aufführungen des Messias - prunkvolle, intime, leichte, ernste, persönliche , volkstümliche, kurz: von jeder Art.

Am Anfang waren die Skrupel. Früh habe Händel im Zentrum seines Musikerlebens gestanden, schreibt Marc Minkowski, nur um den "Messias" habe er einen weiten Bogen gemacht: "Überall und immer wieder gab es Aufführungen des Messias - prunkvolle, intime, leichte, ernste, persönliche , volkstümliche, kurz: von jeder Art. Ich hatte den Eindruck, dass bereits alles gesagt war." Und wem geht es nicht so? Kein Jahr vergeht, in dem nicht rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft die neue, ultimative "Messias"-Aufnahme auf den Markt kommt, an keinem großen Chorwerk lässt sich der Wandel der Interpretationsstile so lückenlos verfolgen.

Es gibt tatsächlich Messiase von jeder Art: Von den monumentalisierten Versionen Malcolm Sargents und Thomas Beechams bis hin zur radikalisierten Minimalversion, die der Niederländer Harry Christophers vor gut zehn Jahren mit seinem Kammerchor "The sixteen" aufnahm. Und nun auch noch, allen Skrupeln zum Trotz, Minkowski. Im Rahmen eines Messias-Filmprojekts des kanadischen Regisseurs William Klein entschloss sich der Alleskönner der Klassik-Szene Hand ans Hallelujah zu legen - und hat auch in diesem Fall etwas ganz und gar Eigenes zu sagen. Zu Statten kommt dem Franzosen dabei, dass er, anders als seine Kollegen Philippe Herreweghe, John Eliot Gardiner oder Paul McCreesh nicht aus einer geistlich oder national bestimmten Chortradition kommt, sondern sich Händel von der Opernbühne her nähert: In keiner der Aufnahmen war der Weg von der Bühne in die Kirche so kurz. Ein säkularisierter "Messias", der keinen Raum mehr für pathetische Verkündigungsposen lässt - ähnlich wie in den großen Händel-Opern, der "Alcina" oder dem "Ariodante", sind die Gefühle, von denen gesungen wird, erstaunlich privat, stehen die Sänger gleichermaßen auf Augenhöhe mit dem Hörer: Ob nun John Mark Ainsley in seiner virtuosen Tenorarie über das Kommen des Erlösers jauchzt oder Charlotte Hellekant ihr wunderbares, ganz nach innen gekehrtes "He was despised", zum Angelpunkt des Werkes macht: Minkowski erreicht einen ganz persönlichen Tonfall, eine unaffektierte emotionale Wärme, die keine charismatische Aufladung braucht.

Das betrifft auch die Chorsätze: Das "Hallelujah" besitzt bei dem grandiosen Chor der Musiciens du Louvre keinerlei barocken Bombast, sondern eine überschwänglich vergnügte Leichtigkeit - ein Reigen seliger Geister. So eigenwillig Minkowskis Lesart in ihrer Konsequenz auch klingen mag, der Verzicht auf eine spezifisch sakrale Aura des Musizierens zieht sich durch alle wichtigen Oratorien-Neuaufnahmen.

Auch Philippe Herreweghe, der sich zum nunmehr zweiten Mal mit Bachs Johannes-Passion auseinandersetzt, macht aus der Leidensgeschichte eine suggestive Höroper - mit einem ganz unoratorisch lebhaften Evangelisten: Mark Padmore schildert den Prozess Jesu beinahe so, als sei er als Reporter bei einer Live-Übertragung und würde das Mikrophon wechselweise an Jesus (den prachtvoll stoischen Michael Volle) richten, oder das elektrisierte Geschrei der fanatisierten Massen einfangen. Auch hier dominiert ein entschieden unaffektierter Zugriff, der zeigt, dass die Alte-Musik-Bewegung sich beim Marsch durch die Instanzen der Konzertsäle verändert hat - die Manierismen und provokativen Zuspitzungen in Artikulation und Tempo, die für die Einspielungen der letzten Jahrzehnte kennzeichnend waren, geben sich abgeschliffen. Statt die Künstlichkeit der barocken Musiksprache hervorzukehren, suchen die Interpreten den Weg zurück zur Natürlichkeit.

Wenn etwa Andreas Scholl das berühmte "Ich habe genug" singt, findet er ganz selbstverständlich diesen goldenen Mittelweg. Dieser Musizierstil einer neuen Interpretengeneration - und einer Hörergeneration, die mit geistlicher Musik zusehends weniger kirchliche Religiosität verbindet - öffnet nebenbei auch den Werken eine Tür, die bisher als zu opernhaft eher Misstrauen weckten. Dass beispielsweise Antonio Vivaldis "Juditha triumphans" bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde, liegt vor allem daran, dass dieses Stück in Wirklichkeit eine nur durch die lateinischen Texte getarnte, vollwertige Oper ist. Trotz großartiger, ja genialer Musik, wie die gerade erschienene exzellente Aufnahme des ehemaligen René-Jacobs-Assistenten Alessandro de Marchi nachdrücklich vor Ohren führt. Auf faszinierende Weise zeigt sich in der "Juditha", wie Vivaldi mit Stimmungen umgehen konnte, wie sich hinter dem vermeintlichen Schematismus seiner Musiksprache ein subtiles Spiel mit Ausdrucks-Nuancen und kunstvoll gezügelten Leidenschaften verbirgt - selbst dass sich alle fünf Rollen innerhalb eines engen Stimmspektrums bewegen, führt angesichts einer sensiblen, charakterlich fein differenzierter Besetzung keinen Moment zu Eintönigkeit.

Die imaginäre Szene, die sich im Grunde um eine große nächtliche Verführungsszene gruppiert, scheint wie von Chiaroscuro eines Kerzenscheins erleuchtet, der gedämpfte Schimmer des Orchesters - all das schafft eine ganz eigentümliche Atomsphäre, ein untergründiges Bewusstsein gegenseitiger erotischer Anziehung zwischen der Jungfrau und dem feindlichen Feldherrn. Ein Spiel mit Angedeutetem, Ungesagtem, bei dem der trompetenschallende Festglanz die Erwartung ebenso in die Irre führt wie das "triumphans" im Titel. Denn das gebührt eigentlich einem anderen: Vivaldi, dem Meister selber.

Jörg Königsdorf

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