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Kultur: Zurückbleiben, bitte!

Folk ist tot, es lebe Antifolk: Wie sich in Berlin eine junge Szene um Wandergitarren und billige Computer schart – und ein Festival organisiert

Kann man sich etwas Ländlicheres vorstellen als Folkmusik? Eine Akustikgitarre klampft, es prasselt das Lagerfeuer. Soweit das Klischee. In Wirklichkeit fand Folk seine Fans von Anfang an vor allem unter urbanen Zeitgenossen. Neuerdings will dieser Folk allerdings lieber „Antifolk“ sein. Der Begriff stammt aus den späten achtziger Jahren, als der Geist des Punk das Folk-Lager erreichte. Antifolk ist für Folk das, was Punk für Rock war: eine Befreiung. Er ist dilettantisch, schrullig und humorvoll, es gilt das Do-it-yourself-Prinzip: Jeder kann es machen.

Antifolk, das ist mehr als Musik. Ein kulturelles Umfeld, eine Gemeinschaft und Lebenseinstellung. Entstanden in New York City, wurden The Moldy Peaches, das Bandprojekt von Adam Green und Kimya Dawson, zu stilbildenden Idolen einer Bewegung, die eigentlich ohne Idole auskommen wollte. In seinem „Antifolk“-Kompendium gibt der Musikjournalist Martin Büsser (Ventil Verlag, Mainz 2005, 150 S., 9,90 €) einen Abriss über die Entwicklung von Bob Dylan bis heute. Nach seiner Darstellung ist ein Songwriter namens Lach Erfinder des Antifolk. In den späten Achtzigern veranstaltete er Songwriterabende in Bars, ab 1994 lud er im Sidewalk Café, Lower Eastside, Musiker zur Open-Mike-Session ein. Der junge Beck Hansen hatte dort einen seiner ersten Auftritte, The Moldy Peaches und Adam Green wurden zu Lieblingen des Szenetreffs. Ein neuer Musikstil entwickelte sich, weil die Musiker den Folk von der Alleinherrschaft der Holzgitarre befreiten und Tröten, Flöten, Billigelektronik und Kinderspielzeug zum Einsatz kamen. Die Texte sprengten den traditionell vorgegebenen Themenrahmen, sie waren schockierend, sexuell, schrullig, albern und tragisch.

In Deutschland erlangte Antifolk erst vor vier Jahren Aufmerksamkeit, als beim Plattenlabel Rough Trade ein von Green und Dawson herausgegebener Sampler erschien. Inzwischen haben sich The Moldy Peaches aufgelöst, Adam Green ist zum Rockstar geworden, von Antifolk hat er sich längst entfernt. Trotzdem ist seit geraumer Zeit auch in Berlin so etwas wie „die Rückkehr des Songs“ zu beobachten. Nachdem in den elektroniklastigen neunziger Jahren die Idee als hoffnungslos veraltet galt, dass ein Musikstück einen Anfang, ein Ende und dazwischen eine Botschaft haben müsse. Bei den vom rührigen Veranstalter Ran Huber organisierten Singer/Songwriter-Abenden fanden es viele junge, internationale Musiker überhaupt nicht peinlich, unter der Vorgabe „Ein Instrument, ein Song“ auf die Bühne zu gehen. Manches klang da sehr nach dem frühen Neil Young und nach noch braveren Folk-Vorbildern wie Simon & Garfunkel. Aber es wurde deutlich, es gibt sie: die Berliner Indie-Folk-Szene.

Die trifft sich regelmäßig im Schokoladen (Ackerstraße 169, Mitte), die Reihe „Fokus Pokus“ lädt dienstags in der Hotelbar (Zionskirchstraße 5, Mitte) zum Indie- Folkkonzert, und ein paar Begeisterte scharen regelmäßig unter dem Namen „Four tracks on stage“ eine Musiker-Clique aus Antifolkern für Open- Mike-Abende um sich.

Nun findet das erste Antifolkfestival statt, nachdem im Herbst 2005 bereits ein Sampler mit dem Titel „Berlin Songs“ herausgekommen ist, der mit 23 Stücken einen Überblick über die Szene bietet. Einzig verbindendes Element: Die Songs handeln von der Stadt, in der sie entstanden sind. Da gibt es vertonte Impressionen von Berlins Straßen, von den U-Bahnhöfen und dem ewigen „Zurückbleiben, bitte!“. Oder eine Ode an den verschmutzten Landwehrkanal. Fast alle „Berlin Songs“-Künstler produzieren ihre Musik selbst und verkaufen sie auf selbst gebrannten CDs nach ihren Konzerten. Zuweilen veranstalten sie wie der Songwriter Le Horror Me auch ihre Konzerte gleich selbst. Man verschickt CDs und bastelt am Artwork, vernetzt sich mit anderen Antifolkern aus der ganzen Welt. Da die Musiker gemeinhin Englisch singen, können sie einander überall verstehen. Es wurde sogar eine Antifolk-Exkursion nach New York unternommen, die Berliner Abordnung hing vor dem berühmten Sidewalk Café ab. Für die Musiker, die sie dadurch kennen lernte, werden jetzt kleine Tourneen durch deutsche Clubs organisiert.

Erfrischend an den Antifolkern ist die unkommerzielle Herangehensweise. Da will niemand von Plattenfirmen entdeckt werden und Popstar sein. Wozu auch? Wo doch die Segnungen der Technik die Produktionsabläufe demokratisiert haben: Schreibe heute ein Lied, nimm es auf und verkaufe es am gleichen Abend auf einem Tonträger, den jeder benutzen kann. Oder stell ein paar Songs auf deine Homepage, zum Herunterladen.

Mit Jeffrey Lewis wird ein prominenter Vertreter der New Yorker Szene beim Berliner Festival dabei sein. Seine letzte Platte trägt den schönen Titel „The Last Time I Did Acid I Went Insane“. In diesem Themenkreis bewegen sich auch viele seiner Songs. Die Berliner Szene kann sich an diesem Abend einem größeren Publikum vorstellen. André Herman Düne lebt seit einem Jahr in Berlin, zuvor war er mit seiner nach ihm benannten Band in ganz Europa unterwegs. Die Songs von Le Horror Me stecken voller popkultureller Referenzen, verpackt in Reime, denen man es ruhig anhören soll, das sie nicht von einem englischen Muttersprachler geschrieben werden. Hinter Marzipan Marzipan verbirgt sich die Berliner Musikerin Roberta, die aus Venedig nach Berlin kam und ihre Musik als „Lo-Fi Softdance and Countryswing“ bezeichnet. Das klingt viel versprechend – egal, was es ist.

„Antifolk 1“, Bastard, Kastanienallee 7–9 (Prenzlauer Berg), 8. März, 21 Uhr 30, mit der Jeffrey Lewis Band (New York) sowie Woog Riots, John E. Donald, Marzipan Marzipan, Le Horror Me, Crazy For Jane, André Herman Düne, und Freschard.

Christiane Rösinger

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