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Kultur: Zwei aufeinander zulaufende Gerschichten erzählen von den "Halbinseln" postsowjetischer Identität

Schon auf den ersten Blick ist dies ein ungewöhnliches Buch: Man kann es vorne wie hinten aufschlagen und ist stets am Anfang, weshalb dieses Werk im Untertitel "RomanamoR" heißt: Erzählt werden zwei Geschichten, die aufeinander zulaufen und sich in der Buchmitte treffen. Pessach, April 1985.

Schon auf den ersten Blick ist dies ein ungewöhnliches Buch: Man kann es vorne wie hinten aufschlagen und ist stets am Anfang, weshalb dieses Werk im Untertitel "RomanamoR" heißt: Erzählt werden zwei Geschichten, die aufeinander zulaufen und sich in der Buchmitte treffen. Pessach, April 1985. In verschiedenen Stockwerken eines alten Hauses auf der Halbinsel Judatin, einem öden Winkel nahe der sowjetisch-finnischen Ostseegrenze, liegen, ohne voneinander zu wissen, zwei dreizehnjährige Jungen. Fieberkrank der eine, das Kind assimilationswilliger Juden, das hier mit seiner großen Schwester und deren Mann die Ferien verbringt. Pubertäre Fantasien, Albträume, Erinnerungen an den sowjetischen Alltag, an Familie und Schule jagen in seinem erhitzten Hirn, während Nachrichten von draußen zu ihm dringen: von der Flucht zweier Ehefrauen, die die lesbische Liebe entdeckt haben; von einem Jungen, der im Kinosaal erwürgt wurde; von einer Keilerei zwischen russischen Grenzsoldaten und Matrosen des Marinestützpunkts der Roten Flotte; aus dem Radio kommen Meldungen, wonach Tschernenko gestorben ist und Gorbatschow am die Macht drängt.

Der andere Junge ist der Nachkomme so genannter Kryptojuden, russischer Christen, die im 15. Jahrhundert zum mosaischen Glauben konvertierten und hier in der Abgeschiedenheit überlebt haben. Umsorgt von der Großmutter und ihren drei "Mädels", bereitet sich der Dreizehnjährige auf eine Initiation vor, die ihn zum Oberhaupt der Familie, womöglich gar zum Welterlöser machen soll. Eben hat er sich selbst beschnitten, ruht jetzt im Bett und darf erst die Augen öffnen, wenn er über sich, seinen Glauben und die Geschichte seines Volkes Klarheit gewonnen hat. Es ist ein Glaube, dessen Koordinaten absurd verrutscht sind: "Rom" erweist sich als Petersburg, "Jerusalem" ist in Wahrheit Helsinki, die "Kanaanäer" sind Finnen, die einst die Juden nach "Spanien, unweit von Ägypten" verjagt haben; russische Beamte gelten als "caesarische Bediente", Sowjets als "rote Römer".

Oleg Jurjew wurde einem deutschen Publikum durch sein Stück "Kleiner Pogrom im Bahnhofsbuffet" bekannt. "RomanamoR" ist zunächst ein Buch über über zwei Facetten eines beschädigten Judentums, wo die einen keine Juden mehr sein wollen, weil sie die Diskriminierung leid sind, während die anderen ihren Glauben pflegen, aber eigentlich Pseudojuden sind. Jurjews Roman ist aber auch ein Buch über die Sowjetunion an der Schwelle zum Zusammenbruch, spielt die Handlung doch am Vorabend der Bestallung Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU: Der "große Tag", den der kryptojüdische Junge erlebt, ist zugleich der entscheidende Moment der sowjetischen Geschichte. Und es ist ein Roman über zwei Jungen an der Schwelle zur Adoleszenz. Auf drei Ebenen, religiös, biografisch-sozial und politisch, geht es um Anpassung und Absonderung, Bewahren und Entwickeln, Bruch und Dauer. So gestaltet Oleg Jurjew in seinem ebenso geheimnisvollen wie originell konstruierten und bildkräftig erzählten Roman "Halbinsel Judatin" die gleichermaßen modische wie fundamentale Frage nach der Identität und dem Selbstverständnis: Sind sie ein Konstrukt, gar nur eine Einbildung? Welchen Anteil spielt das geschichtliche Erbe, inwiefern sind sie das Produkt eigener freier Entscheidung? Eine Antwort gibt er nicht.Oleg Jurjew: Halbinsel Judatin. RomanamoR. Aus dem Russischen von Elke Erb und Sergej Gladkich. Berlin, Volk & Welt 1999. 185 und 174 Seiten, 38 DM.

Peter Köhler

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