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Kultur: Zwei Königsmacher aus Berlin

Im Kino: Ein Dokumentarfilm über das Jazz-Label "Blue Note"VON KAI MÜLLEREine "blue note" ist ein Ton, der im klassischen Harmoniesystem nicht vorkommt.Er liegt zwischen den üblichen Ton-Intervallen und entstammt der Neigung des Blues, Tonfolgen zu spielen, die chromatisch aufeinander aufbauen.

Im Kino: Ein Dokumentarfilm über das Jazz-Label "Blue Note"VON KAI MÜLLEREine "blue note" ist ein Ton, der im klassischen Harmoniesystem nicht vorkommt.Er liegt zwischen den üblichen Ton-Intervallen und entstammt der Neigung des Blues, Tonfolgen zu spielen, die chromatisch aufeinander aufbauen.Als der deutsche Jude Alfred Lion 1938 in die USA emigrierte und in New York ein kleines Jazz-Label gründete, nannte er es "Blue Note Records".Die Namenswahl war der Auftakt einer beispiellosen Erfolgsgeschichte."Blue Note" ist zum Inbegriff des modernen Jazz geworden. Julian Benedikts Dokumentation über Alfred Lions und Francis Wolffs "Blue Note"-Label, die bei der Berliner Premiere unerwartet begeistert aufgenommen wurde, rekonstruiert die Entstehung und Entwicklung des Unternehmens, für das die bedeutendsten Musiker des Modern Jazz Platten eingespielt haben.Zu ihnen gehörten Künstler wie Thelonious Monk, Sonny Rollins, John Coltrane, Art Blakey, Herbie Hancock, Horace Silver, Wayne Shorter, Joe Henderson, Max Roach, Ron Carter und viele andere.Benedikt hat diejenigen, die noch leben, über das Label und seine beiden Köpfe befragt und die Erinnerungen in einer rasanten Collage zusammengeschnitten.Man spürt, daß seinem Film die jüngste Wiederauferstehung von "Blue Note"-Werken im Acid Jazz vorausgegangen ist.Benedikt hat nicht nur historische Fakten angehäuft, sondern durch seine unbekümmerte Art mit dem Material umzugehen assoziative Bezüge geschaffen, die einen den besonderen "Blue Note"-Klang auch visuell erleben lassen. Alfred Lion wuchs im Berlin der 20er Jahre auf.Mit Jazz kam er zufällig in Berührung, als im Admirals-Palast, wo er für gewöhnlich auf seinen Rollschuhen Runden drehte, eines Abends eine schwarze, laute Jazzkapelle auftrat.Sein Interesse an dieser fremden, nervösen Musik, die wie ein Fieber auf das Publikum übergriff, war augenblicklich erwacht.Vielleicht hoffte Lion, im Jazz eine imaginäre Heimat zu finden, die er sonst nirgendwo finden konnte.Und diese Sehnsucht dürfte noch stärker geworden sein, nachdem er Deutschland verlassen mußte. In New York, wohin er vor den Nazis floh, produzierte er zunächst mit wenig Aufwand die Boogie-Woogie-Pianisten Albert Ammons und Meady Lux Lewis.Später wandte er sich dann den etwas verrückteren Vertretern des Mainstream zu.Mit Sidney Bechets "Summertime" wurde dem jungen Label ein erster Hit beschert.Solche und andere Erfolge verschafften dem ambitionierten Produzenten ein wenig finanziellen Spielraum, so daß er sich mit Beginn des Bebop für einen so eigenwilligen und unverständlichen Künstler wie Thelonious Monk, der bislang unbeachtet geblieben war, einsetzen konnte.Das machte Lions herausragende Persönlichkeit aus, daß er die spezielle Begabung eines Menschen erkannte und alles daransetzte, sie zu fördern.Er engagierte junge Talente, die, wie Herbie Hancock, ohne ihn ihr musikalisches Profil vielleicht nicht entwickelt hätten.Er setzte sich stets für optimale Produktionsbedingungen ein, indem er die Proben bezahlte, für einen Bandleader die beste Besetzung zusammensuchte, für einen bestmöglichen Sound sorgte und sogar beim Vinyl auf Qualität achtete.Die Sorgfalt zahlte sich aus: "Man spielt einfach besser, wenn man für Blue Note aufnimmt", sagte Dexter Gordon. Sein Freund und Partner, Francis Wolff, der Ende 1939 aus Deutschland noch entkommen konnte, begann bei den Aufnahme-Sessions zu fotografieren.Seine Bilder sind von einer seltenen Eleganz und Intimität.Auf ihnen sind die Jazzmusiker, die im öffentlichen Bewußtsein Amerikas noch als Sklavenabkömmlinge wahrgenommen wurden, "wie Könige" abgebildet.Die beiden jüdischen Emigranten erkannten im Jazz eine genuine Kunstform, der sie wie Liebhaber verfallen waren.Sie interessierte nicht, wie gut sich eine Platte verkaufen würde.Vielmehr achteten sie darauf, daß sie einen besonderen Klang und Drive bekam.Die Musiker berichten, wie Lion darauf bestand, daß ein Stück "Schwing" haben müsse, obwohl er selber kaum den Takt zählen konnte.Lions Gespür für musikalische Ideen, die Fotos von Wolff, der Sound des Toningenieurs Rudy van Gelder sowie das Cover-Design von Reid Miles trugen dazu bei, daß jede Platte ein eigenes Gesamtkunstwerk wurde. "Blue Note" erlebte seine Blütezeit Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre.Im Gefolge der Bebop-Stars, die sich ausgetobt hatten, machten sich Musiker bemerkbar, die eine weniger artifizielle, sondern stärker im Blues verwurzelte Musik spielen wollten.Der Hard Bop entstand.Die aggressive Gradlinigkeit, die eingängigen Melodien, die deutliche Pointen setzten, sowie die Balance zwischen sinnlichem Ausdruck und thematischer Struktur verhalf dem Label zu Weltruhm.Der Niedergang setzte jedoch bald mit dem abnehmenden Interesse am klassischen Jazz ein.Den Schritt zu Free Jazz oder Fusion konnten die beiden Traditionalisten Lion und Wolff nicht vollziehen. Die Wiedergeburt gelang erst unter dem Einfluß digitaler Sample-Verfahren, die einer jungen Generation den Zugriff auf altes "Blue Note"-Material ermöglichen."Vielleicht", so die Hoffnung von Horace Silver, "kaufen sich die Leute dann auch mal eine Platte von dem, der die Musik ursprünglich komponiert hat." Am Ende von Benedikts bemerkenswertem Film sitzen alte Männer beisammen wie Veteranen und betrachten Fotos, die über dreißig Jahre alt sind.A blue moment.

KAI MÜLLER

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