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Zweiter Weltkrieg: Martin Dentlers Tod in Stalingrad

Es ist die entscheidende Schlacht an der Ostfront, die 1942 und 1943 hunderttausende Opfer fordert. Nun hat der Berliner Historiker Andreas Petersen das Leben eines deutschen Soldaten rekonstruiert.

Diese Geschichte beginnt acht Monate nach der größten Schlacht des Zweiten Weltkriegs mit einem Musterschreiben im Format DIN A5. Datiert ist es auf den 11. September 1943, verschickt hat es der „Arbeitsstab Stalingrad-Tunis“ der Wehrmacht in München. Empfängerin: die damals 26-jährige Viktoria Dentler im Allgäu. In Schreibmaschinenschrift heißt es in dem Brief: „Der Arbeitsstab überreicht Ihnen das Gedenkblatt für Ihren im Kampfraum Stalingrad gefallenen“ – dann folgt, mit Füllfederhalter ergänzt, das Wort „Mann“. Und darunter, in einer Handschrift, die wirkt, als hätte jemand schnell einen Einkaufszettel geschrieben: „Uffz. Martin Dentler“.

Auf dem beigelegten Gedenkblatt prangt der Reichsadler mit dem Hakenkreuz. Dentler, steht dort, sei „den Heldentod für Führer/Volk und Vaterland“ gestorben, „im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands“.

Erst durch diese Mitteilung erfährt Viktoria Dentler, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Wo er begraben liegt und wie er gestorben ist, erfährt sie nicht, wird es nie erfahren. Sie heiratet wieder, über ihren ersten Mann verliert sie kaum mehr ein Wort. Doch als das Fernsehen Jahrzehnte später Dokumentationen über Stalingrad zeigt, schaltet sie stets ein und schaut ganz genau hin. In der Hoffnung, auf einer der alten Filmaufnahmen von der Front Martins Gesicht zu entdecken.

Martin Dentler, um den es hier gehen soll, ist nicht berühmt, er war kein hoher General, bloß Unteroffizier. Er hat durchgemacht, was Hunderttausende durchmachen mussten, und seine Spur verlor sich dabei, wie die so vieler anderer. Seine Geschichte ist „nicht außergewöhnlich und gleichzeitig ist sie es doch“, sagt der Historiker Andreas Petersen, der sie recherchiert, aufgeschrieben und nun sogar eine kleine Broschüre daraus gemacht hat – mit dem Titel „Einer von vielen“.

Petersen, Jahrgang 1961, ist in Köln aufgewachsen, als Sohn einer Schweizerin und eines Deutschen. Heute pendelt er zwischen Berlin und dem kleinen Brugg im Kanton Aargau. An der Fachhochschule Nordwestschweiz ist er Dozent mit den Schwerpunkten internationale Konflikte und Osteuropa. Sein Zugang zur großen Geschichte, das sind häufig die kleinen Leute, die ihm ihr Leben erzählen. Im Juni hat er das gut besprochene Buch „Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren“ vorgelegt, die Erinnerungen des Berliner Kommunisten Erwin Jöris, der im Gulag eingesperrt war.

Und so heißt die „Agentur für Geschichte“, die Petersen neben seiner Tätigkeit als Dozent betreibt, denn auch "Zeit & Zeugen" . Man kann ihn buchen: für Nachforschungen in einem Archiv oder eben für die Rekonstruktion eines ganzen Lebens. Der Stalingrad-Bericht ging an die Tochter von Martin Dentler, als Geburtstagsgeschenk ihrer Familie. Die 72-Jährige war als Kind mit Mutter Viktoria in die Schweiz gezogen, wo sie bis heute lebt. Den Vater hat sie nie kennengelernt, trotzdem interessierte er sie. Vor allem wollte die Familie wissen, ob es irgendwo ein Grab für Dentler gibt. 1000 Franken waren als Honorar ausgemacht, doch Petersen faszinierte der Auftrag so sehr, dass er mehr recherchierte als geplant, auch ohne entsprechende Bezahlung.

Beim Gespräch in seiner Kreuzberger Wohnung zeigt der Historiker zuerst die Todesnachricht der Wehrmacht. „Das war der einzige Ausgangspunkt für mich, mehr hatte die Familie nicht und mehr wusste sie nicht“, sagt er. Mit Stalingrad hatte sich Petersen vorher nie näher beschäftigt. „Man weiß, es war der Wendepunkt des Kriegs, aber der Mythos ist so groß, dass man glaubt, erst mal fünf militärhistorische Bücher lesen zu müssen.“

2700 Kilometer östlich von Berlin liegt die Stadt, die von 1925 bis 1961 Stalingrad hieß – dem sowjetischen Diktator zu Ehren, der dort im russischen Bürgerkrieg einen wichtigen Sieg erzielt hatte. Ihr ursprünglicher Name war Zarizyn. Heute heißt sie Wolgograd, des Flusses wegen, an dessen Ufern sie sich erstreckt. Er ist auch ein Grund dafür, warum die Stadt strategisch so bedeutsam ist. Denn über die Wolga, den längsten und wasserreichsten Fluss Europas, können Lebensmittel, aber auch Öl vom Süden in Richtung Moskau und Petersburg transportiert werden.

Als die Wehrmacht im August 1942 vor Stalingrad anrückt, liegt der Angriff auf die Sowjetunion mehr als ein Jahr zurück. Die Deutschen scheinen auf ihrem Vormarsch Richtung Osten nicht zu stoppen zu sein. Doch die vollständige Eroberung der Stadt gelingt nicht, und Mitte November kreist die Rote Armee schließlich 300 000 Wehrmachtssoldaten ein. Auf Befehl Hitlers (und gegen die Meinung hoher Militärs) sollen diese unbedingt durchhalten. Hermann Göring verspricht, die Truppen aus der Luft zu versorgen, aber der Plan scheitert kläglich.

72 Tage dauert es, bis die 6. Armee unter Friedrich Paulus dann doch kapituliert. In dieser Zeit sterben 200 000 deutsche Soldaten. Sie werden erschossen, von Panzern überrollt, erfrieren oder verhungern. Auf sowjetischer Seite kosten die Kämpfe um Stalingrad insgesamt eine halbe Million Soldaten und hunderttausende Zivilisten das Leben. Von den 100 000 Deutschen, die am Ende in Gefangenschaft gehen, werden, wegen Entkräftung und schlechter Bedingungen, nur 6000 nach Hause zurückkehren.

Im Kessel von Stalingrad, einem Gebiet von rund 50 Kilometern Durchmesser, herrscht das nackte Grauen: Leichenberge dienen als Kugelfang, Krankheiten grassieren, Soldaten werden verrückt, vereinzelt kommt es zu Kannibalismus. In diesem apokalyptischen Chaos wird bald nicht mehr registriert, wer wo warum umgekommen ist. Der „Arbeitsstab Stalingrad-Tunis“ – kurz nach der Schlacht an der Wolga hatte auch in Nordafrika eine deutsche Armee kapituliert – muss deshalb Monate später rekonstruieren, wie es wohl gewesen sein wird.

Damit man sie im Todesfall identifizieren kann, tragen die Soldaten Marken bei sich. Auch Martin Dentler hatte so eine, auf ihr stand die gleiche Nummer wie auf dem Gedenkblatt, das seine Frau später erhielt: 12/I.R.767. Die Nummer war ein erster Anhaltspunkt für Andreas Petersen. „Die letzten drei Ziffern stehen für das Infanterieregiment 767, die ersten zwei geben an, dass Dentler Teil der 12. Maschinengewehr-Kompanie im III. Bataillon war“, erklärt er.

Um mehr über Dentlers militärische Laufbahn zu erfahren, wandte er sich an die Deutsche Dienststelle (WASt), gegründet 1939 als „Wehrmachtsauskunftstelle für Kriegerverluste und Kriegsgefangene“. Sie befindet sich heute in Reinickendorf und unterhält eine riesige Datenbank, in der 18 Millionen Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs alphabetisch erfasst sind. „Dort können Sie eine Art Personalakte des Soldaten bekommen: Wann wurde er eingezogen? Wo war er stationiert?“ Die Bearbeitung dauert ein paar Monate. Schneller bekam Petersen Infos von der Kriegsgräberfürsorge. „Innerhalb einer Woche wusste ich, dass sich Dentlers Grab auf einem Friedhof bei Wolgograd befindet“, sagt er. „Unwahrscheinlich, wie gut organisiert das alles ist.“

Sobald man weiß, in welcher Einheit ein Soldat wann gewesen ist, lässt sich sein Leben minutiös nachzeichnen. Denn im Krieg ist der Einzelne bloß Teil einer Maschinerie, in der alle im Wesentlichen das Gleiche tun – und das ist gut dokumentiert. „Es gibt ein Standardwerk, das mir sehr geholfen hat“, sagt Petersen. Dieser „Brockhaus der Militärgeschichte“, wie er ihn nennt, heißt „Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg“ und ist ein 17-bändiges Werk des Historikers Georg Tessin. Außerdem nutzte er Erinnerungen von Stalingrad-Veteranen.

Andreas Petersen hätte jetzt aufhören können, alle verlangten Fakten waren beisammen. Doch er beschloss, auf einer Autofahrt Richtung Schweiz Halt zu machen in Dentlers Heimatdorf in Bayerisch-Schwaben, unweit des Bodensees. Vorher hatte er Kontakt aufgenommen zum örtlichen Kriegerverein, der sich um das Andenken gefallener Soldaten kümmert. Und was ihn dann im winzigen Opfenbach erwartete, das lässt Petersen noch immer staunen: „Unwahrscheinlich!“, sagt er wieder. Er wurde herumgeführt, bekam viele Geschichten von früher zu hören und sogar einen Lebenslauf Dentlers, den dessen Volksschullehrerin vor Jahrzehnten geschrieben hatte. „Auf dem Land ist der Krieg noch viel präsenter als in der Stadt. Nicht nur die Älteren können einem sagen: In dem Hof da sind zwei gefallen, und in dem war es einer.“

Für den Historiker nahm Dentler nun immer mehr Gestalt an. Wenn er von ihm spricht, nennt er ihn „den Kerl“, ein bisschen wie einen alten Kumpel. Martin Dentler war das zwölfte Kind, sein Vater tötete sich selbst, als der Junge 13 war, vielleicht weil Jahre zuvor der Hof in Flammen aufgegangen war. 1933, im Jahr, als die Nazis die Macht übernahmen, wurde Dentler Knecht, 1937 begann er als Geselle in der Käserei seines späteren Schwiegervaters. Er kannte nur die kleine Welt des Alpenvorlands, war sehr wahrscheinlich ein unpolitischer Mensch.

Und doch muss Martin Dentler nun bald, gerade 22 Jahre alt, mit dem Maschinengewehr durch halb Europa ziehen, angeblich für die „Freiheit Großdeutschlands“. Er durchläuft den vormilitärischen Reichsarbeitsdienst, wird dann in die Wehrmacht eingezogen. 1939 schickt man seine Division zwei Tage nach Kriegsausbruch über die polnische Grenze an die vorderste Front. Er wird schwer verwundet, erleidet einen Brustkorbdurchschuss – das erfährt Andreas Petersen später aus Unterlagen der Deutschen Dienststelle.

Die Geburt seiner Tochter am 1. April 1940 erlebt Dentler wohl zu Hause, aber im Sommer geht es wieder los: Zunächst muss er in die Bretagne, ab dem Frühjahr 1942 ist er dann in Südfrankreich stationiert, bis seine Division – die meisten Männer kommen wie er aus Bayern, die Wehrmacht ist landsmannschaftlich organisiert – im Juni nach Osten verlegt wird. Im Güterzug geht es über Wien und Budapest ins ukrainische Charkow und dort direkt in die Schlacht. Für Dentler „bedeutete das nach drei Jahren wieder vorderster Fronteinsatz. Schweres Maschinengewehr – das hieß MG 42, aufgesetzt auf eine dreibeinige Feld-Lafette, 1500 Schuss pro Minute“, schreibt Petersen.

Die Wehrmacht siegt in Charkow, und die Sommeroffensive beginnt. Rasend schnell rücken die Soldaten nach Osten vor. Dentlers 6000-köpfiges Regiment kommt am 13. August 1942 zum Stehen, am Don, denn die Rote Armee hat sich am Ufer des Flusses festgesetzt. 150 Kilometer nördlich von Stalingrad gräbt sich Dentler in den sandigen Boden. Während in der Wolga-Metropole der Häuserkampf tobt, lässt Stalin gegenüber dem Donbogen heimlich Truppen zusammenziehen. Es dauert nicht lange, und Dentler findet sich plötzlich im Zentrum der Schlacht wieder: Am Morgen des 19. November beginnt die Rote Armee mit Dauerbeschuss, es klingt wie eine Gewitterfront. Der sowjetische Durchbruch von Norden her hat begonnen.

Dentlers Division muss die Stellung halten, bis sich andere Einheiten absetzen können. Es folgt ein Gewaltmarsch von 60 Kilometern, wochenlang liegt Dentler dann in kalter Erde, kein Baum hält den Wind auf, der Winter hat begonnen. Längst wissen die Soldaten: Die ganze Armee ist eingeschlossen. Petersen schreibt: „Alles war flach, gegen Panzerangriffe hatten sie keine Chance. Minengürtel, Drahtverhaue – nichts gab es mehr. … Es fehlte an allem: Gewehre, Munition, Verpflegung.“ 100 Gramm Brot am Tag müssen reichen. Bei sowjetischen Angriffen sterben nun mehr und mehr von Dentlers entkräfteten Kameraden – und am 16. Dezember er selbst. Wie, ist unklar.

Im Juli 2012 ist Andreas Petersen nach Wolgograd gefahren. Auch das ließ sich mit einer pivaten Reise verbinden, denn der Historiker hat einen tschetschenischen Patensohn, den er immer mal in Grosny besuchen wollte. Die karge Steppenlandschaft um die Wolga, die Weite, der Himmel haben ihn berührt. Irritierend war die Hitze des Sommers, hatte Petersen doch gerade unzählige Berichte über erfrorene Soldaten gelesen. In Wolgograd ist das Andenken an die Schlacht lebendig, über der Stadt thront die Mutter-Heimat-Statue, in Erinnerung an den Sieg im Weltkrieg, der so viele Opfer forderte. „Man sollte nicht vergessen: Dentler war einer von denen, die in ein fremdes Land eingedrungen sind und Menschen erschossen haben“, sagt Petersen und sympathisiert doch mit ihm: „Sein Leben hatte kaum begonnen, da wurde er irgendwohin geschleppt und starb diesen sinnlosen Tod.“

Der Friedhof, auf dem Dentlers Überreste liegen, befindet sich 40 Kilometer nordwestlich von Wolgograd, mitten im Nirgendwo. Zehntausende sind dort in Rossoschka begraben, Deutsche auf der einen, Russen auf der anderen Seite der Landstraße, die das Gelände teilt. Die Kriegsgräberfürsorge hat die Anlage in den 90ern aufgebaut, Gebeine von anderen Friedhöfen wurden hierher überführt. Der deutsche Teil ist eine Grasfläche, auf der ein paar einzelne Kreuze stehen, er misst etwa 150 Meter im Durchmesser und ist in 32 Felder unterteilt.

Und so endet diese Geschichte: In Rossoschka, mit Andreas Petersen, der erfahren hat, dass Martin Dentlers Überreste in Block 28 des Gräberfelds liegen. Von Weitem – denn betreten darf man die Fläche nicht – schaut Petersen auf den Flecken Gras. Immerhin ruht der Kerl in dieser schönen Landschaft, denkt er.

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