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Brandenburg: Mahnende Wacht

Weihnachten vor dem Werkstor: Die Samsung-Beschäftigten harrten auch an den Feiertagen aus

Das letzte Weihnachtsgeschenk traf laut Mahnwachen-Tagebuch am Heiligen Abend um 20 Uhr 40 ein: Ein Ehepaar brachte einen großen Kochtopf mit 50 Wiener Würstchen vorbei. Seitdem hat niemand mehr die Leute vor dem Werkstor der Samsung-Bildröhrenfabrik in Oberschöneweide besucht. Nur manche Autofahrer hupen und recken den erhobenen Daumen aus dem Fenster, und die Fahrer der meist leeren Straßenbahnen klingeln kurz zum Gruß.

Jetzt ist es Mitternacht, der 24. Dezember vorbei, lautloser Nieselregen geht nieder. Während ihre Familien zu Hause die Lichter am Baum löschen, werfen die Samsung-Leute frische Holzscheite ins Feuer und schauen den davonfliegenden Funken nach. Wenn es ihnen zu kalt wird, können sie sich in einen geheizten Bauwagen verkriechen, aber meist stehen sie an der Feuertonne oder unter dem Partyzelt, unter dem sich die Leckereien türmen, die ihnen geschenkt wurden: Personalräte der BVG und ihres Tochterunternehmens Berlin-Transport brachten Schokoladenweihnachtsmänner und Marzipanbrote, eine junge Mutter kam mit einer großen Kiste Glühwein angeradelt, eine Oma gab ihnen eine Kiste Mandarinen mit den Worten „Ihr braucht doch Vitamine bei der Kälte!“, der Fahrer eines Autos aus Mülheim drückte ihnen 50 Euro in die Hand, rief „Haltet durch!“ und brauste davon. Es gibt einen Schichtplan, damit immer mindestens zehn Leute bei der Mahnwache sind. Meist kommen ein paar mehr, im Moment sind sie zu zwölft.

„Die nicht dabei sind, kann man nur bedauern“, sagt Gisela Windmüller, 51 Jahre alt, runde Brille, kurze Haare, seit 16 Jahren bei Samsung. Sie ist eine jener 750, die der Konzern entlassen will – und zwar lieber heute als morgen. Am Tag vor Weihnachten erst kam ein Brief, in dem die Geschäftsführung auf den Vorteil steuerfreier Abfindungen aufmerksam machte, wenn die Beschäftigten ihre Kündigung noch in diesem Jahr akzeptierten. Auch deshalb stehen sie hier: Bloß nicht verunsichern lassen, sagen sie, wir müssen zusammenhalten, noch sind wir ja nicht einmal gekündigt.

Beim ökumenischen Gottesdienst auf dem Gehweg am Nachmittag waren sie sogar 300 Leute. Mit den Gebeten und dem Vaterunser konnten die meisten wenig anfangen, aber als der katholische und der evangelische Pfarrer nacheinander über Anstand, das Fest der Liebe und das täglich Brot sprachen, haben sich viele mit dem Taschentuch in die hinteren Reihen verdrückt. „Es ist auffallend ruhiger heute“, sagt Andreas Marten, der schon mehrere Schichten bei der Mahnwache verbracht und einen Tannenzweig unter den „Samsung-muss-bleiben“-Button an seiner Jacke gefädelt hat. „Die Leute sind viel mehr in sich gekehrt.“ Ja, sagt einer am Feuer, „wir hätten uns ja auch nie träumen lassen, dass wir Heiligabend mal hier vor dem Werkstor stehen.“ Inzwischen ist es halb zwei, der Regen hat aufgehört, der erste Nachtbus kommt. Langsam rollt der Fahrer an Bauwagen und Feuerstelle vorbei. Hupt, winkt, lächelt. „Diese Aktion hier kostet keine Kraft“, sagt der Mann am Feuer. „Sie gibt Kraft. Jeden Tag ein bisschen mehr.“

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