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Baustelle Berlin. Das Gemälde von Friedrich Kaiser zeigt Bauarbeiten an der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) im Scheunenviertel um 1875.

© akg-images

Bilder einer Großstadt: Als Berlin Metropole wurde

Zwischen Mittelalter und Moderne: Ein Bildband zeichnet den städtischen Alltag im 19. Jahrhundert nach.

„Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.“ Der Satz stammt von Heinrich Zille, und wenn man sich auf dieser Seite das kolorierte Foto einer Proletarierwohnung ansieht, kann man ihm nur zustimmen. Denn was heißt Wohnung! Eine Wohnküche, gelegen in Berlin SW, Möckernstraße 115, ein Drecksloch, erfüllt von Hoffnungslosigkeit, die den Bewohnern ins Gesicht geschrieben steht. Und wo schlafen eigentlich die Kinder?

Aufgenommen wurde das Foto im Jahr 1908, also genau genommen schon außerhalb des Zeitrahmens, der dem jüngst erschienenen Bildband „Alltag in Berlin. Das 19. Jahrhundert“ von den beiden Autoren Hans-Ulrich Thamer und Barbara Schäche, er Geschichtsprofessor an der Universität Münster, sie Leiterin der Fotosammlung des Berliner Landesarchivs, gesetzt wurde. Die beiden haben bereits, ebenfalls im Berliner Elsengold-Verlag, einen entsprechenden Band zum 20. Jahrhundert herausgebracht. Diesmal nun geht es ein Jahrhundert zurück, wobei die Grenzlinie, wie bei dem 1910 über der Marienkirche schwebenden Doppeldecker, nicht immer exakt eingehalten wird. Aber endete das 19. Jahrhundert genaugenommen nicht erst 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der das Ende des alte Europas wie auch des alten Berlins bedeutete?

Dabei war schon das 19. Jahrhundert gerade für die Stadt eines der großen Umbrüche gewesen: Anfangs eine eher verschlafene Residenzstadt, gebeutelt von der Besetzung durch die Franzosen, schon baulich noch immer stark dem Mittelalter verhaftet, man werfe nur einen Blick in die enge Parochialstraße um 1831, mit dem noch einzigen Turm der Nikolaikirche im Hintergrund.

Nur wenige Jahrzehnte später sah es in der Stadt schon ganz anders aus, blähte sie sich zur Industriemetropole und sogar zur Reichshauptstadt auf, mit allem Glanz und Gloria, aber auch mit allen Schattenseiten der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten.

Der Band zeichnet diesen Wandel präzise und vor allem anschaulich nach, in kurzen einführenden Texten und mit einer opulenten Flut von Gemälden, Grafiken und im weiteren Verlauf des Jahrhunderts zunehmend auch Fotos. Geordnet sind sie nach Themen wie „Die Sichtbarkeit der Macht“, „Wohnen und Familie“, „Städtische Arbeitswelten“ oder auch „Gesellschaft und Kultur“. Wobei die einzelnen Kapitel schon für sich eine riesige Spanne des gesellschaftlichen Wandels abzudecken haben, dass es mitunter kaum noch glaubhaft ist, dass es sich um dieselbe Stadt handeln soll. Welten trennen die sektseligen Diskutierrunden des dichtenden Kammergerichtsrats E.T.A. Hoffmann mit dem Schauspieler Ludwig Devrient bei Lutter und Wegner am Gendarmenmarkt von der vermutlich streng patriotischen Herrenrunde um 1900 in einem Brauhaus. Und wie weit ist der Weg von den Leibesübungen Turnvater Jahns um 1811 in der Hasenheide bis zu den ersten Fußballspielen gegen Ende des Jahrhunderts. Hertha BSC? Daran ist noch nicht zu denken.

Hans-Ulrich Thamer, Barbara Schäche: Alltag in Berlin. Das 19. Jahrhundert. Elsengold-Verlag, Berlin. 312 Seiten, rund 1000 Abbildungen, 49,95 Euro

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