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Thea Dorn und Richard Wagner: "Prenzlauer Berg ist ein Biotop des neuen Biedermeier"

Warum Martin Luther ein gnadenloser Berserker ist und wir in großer Ratlosigkeit leben: Die Schriftsteller Thea Dorn und Richard Wagner über den 9. November, die Kulturnation und ihr Buch über die deutsche Seele.

Thea Dorn und Richard Wagner, Sie haben ein Buch mit dem Titel „Die deutsche Seele“ herausgebracht. Der Dramatiker Arthur Schnitzler hat vor 100 Jahren die Seele jedes Menschen ein „weites Land“ genannt. Lässt sich denn in Deutschland eine kollektive, nationale Seele finden?

RICHARD WAGNER: Das kommt auf den Versuch an. Nach der totalitären Barbarei des Nationalsozialismus ist die Frage nach einer tieferen deutschen Identität in Geschichte und Kultur jahrzehntelang entweder verdrängt oder in der Dimension verkürzt worden.

THEA DORN: Natürlich liegt der Schatten des Nationalsozialismus auf der deutschen Seele. Viele finden es auch schlicht uncool, sich mit diesem vermeintlich altmodischen Ding namens Seele zu beschäftigen. Gerade nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung hat sich aber gezeigt, dass es falsch war, vor allem auf das Materielle zu setzen. Wenn die Deutschen in Ost und West nur das Geld vereinte, dann stünden wir auf hohlem Boden. Man sieht die Probleme jetzt in Europa. Gesellschaften brauchen als Halt eine untergründige Verbundenheit, die wir einfach mal Seele nennen.

WAGNER: Bei der Wiedervereinigung spielte die Kulturnation erst mal keine Rolle. Dabei ist das ein Begriff, der den deutschen Seelenhaushalt nachhaltig bestimmt hat. Die Kulturnation war nicht nur am Weimarer Musenhof um Goethe und Schiller der Ersatz für die fehlende politische Nation, sie möblierte auch die deutsche Innerlichkeit, während man draußen in der Politik nur Zaungast der bürgerlichen Revolution der Franzosen war. Martin Walser bezeichnete die Kulturnation 1988 noch barsch als „Abfindungsformel“. Aber was sie ausmacht, wäre jetzt von stärkstem Interesse für die aktuelle Integrationsdebatte.

Ist der 9. November, der beim Mauerfall 1989, in der Pogromnacht 1938, bei der Ausrufung der Republik 1919 und schon bei der gescheiterten bürgerlichen Revolte 1848 ein Tag der Freude oder der Schande war, so etwas wie der deutsche Allerseelentag?

WAGNER: Es hat Symbolkraft, dass ein Tag wie dieser mit so unterschiedlichen Gesichtern durch unsere Geschichte geistert. Symbole dienen der Selbstvergewisserung. Alle Identitätsdebatten, die nach 1989/90 in der „Berliner Republik“ geführt wurden, kreisten jedoch um den Holocaust, die NS-Diktatur oder den Stasi-Staat. Davor gähnt ein riesiges Loch.

DORN: Das 20. Jubiläum des Mauerfalls in Berlin war doch blamabel. Da hatte die Bundesregierung die Festveranstaltung vor dem Brandenburger Tor an das ZDF und eine Eventproduktionsfirma verkauft. Es wurde eine von Thomas Gottschalk moderierte x-beliebige TV-Show, schlechter als „Wetten dass“ auf Mallorca, schon wegen des Wetters. Was für eine Selbstvergessenheit ist am Werk, wenn wir an ein so zentrales Ereignis, der eigenen Geschichte, an einen ursprünglich utopischen Aufbruch nach 20 Jahren nur noch in banalsten Formen zu erinnern wissen. Das hat auch mit unserer Scheu vor dem Pathos zu tun.

Diese Scheu ist eine Reaktion auf den Missbrauch von Zeremonien und den pathetischen Gefühlskitsch der Nazis. Sehen Sie darin eine deutsche Seelenschwäche?

DORN: Es ist ein Tabu, das bereits die Geschichte der Bundesrepublik durchzieht. Willy Brandt war einer der wenigen, die noch zum Pathos fähig waren. Bei Helmut Kohl 1985 mit Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg ist das prompt schiefgegangen. Heute haben wir für unsere pragmatische Nüchternheit die perfekte Kanzlerin.

Ist das schlimm?

DORN: Ich möchte schon, dass ein Land in seinem Innersten mehr ist als die Summe seiner Steuerzahler und Transferleistungsempfänger.

Sie ergründen die „deutsche Seele“ in 60 Kapiteln. Die Stichwort reichen von „Abendbrot“ und „Arbeitswut“ bis „Männerchor“, vom „Reinheitsgebot“ zum „Sozialstaat“, von „Wanderlust“, „Wiedergutmachung“ und „Winnetou“ bis „Zerrissenheit“. Was es nicht gibt, sind „Liebestod“, „Romantik“ oder die „Wende“.

WAGNER: Diese Motive sind alle in verwandten Kapiteln enthalten und im Register zu finden.

Im längsten Kapitel „Musik“ lesen wir, wie auf dem Weg von Bach über Beethoven und Wagner hin zu Berg und Schönberg der deutsche Konzertsaal zum neuen Gotteshaus wird. Schönberg wurde als Jude und Prophet einer „undeutschen“ Musik von den Nazis vertrieben. Die moderne Seelenkunde rührt bekanntlich von Sigmund Freud, dem jüdischen Psychoanalytiker. Gibt es für Sie eine deutsch-jüdische Seele, die ab 1933 ausgelöscht werden sollte?

DORN: Es gab eine deutsch-jüdische Seele, wie es die deutsch-jüdische Kultur eines Heine, Mendelssohn, Kafka oder Kortner gab. Auch gibt es sicher Unterschiede zur nichtjüdisch-deutschen Kultur. Heinrich Heine macht etwas anderes aus dem „Tannhäuser“-Mythos als Richard Wagner. Beide stehen fasziniert vor dem Abgrund des Venusbergs, es ist die alte deutsche Lust an der Tiefe, die Weib und Berg verkörpern. Wagner schickt seinen Tannhäuser in den Venusberg, worauf dieser feststellt, dass der Liebesrausch mit einer heidnischen Göttin einem deutschen Helden keine Ewigkeit bescheren kann. Also hilft nur der Liebestod, der deutsche Untergangsgestus. Bei Heine macht Tannhäuser eine erfolglose Buß-Reise nach Rom zum Papst, dann aber kehrt der verliebte Minnesänger zurück zu Frau Venus, die legt ihn ins Bett, kocht ihm ein Süppchen, und Heine nutzt das bürgerliche Idyll zu satirischen Versen: über christliche und deutsche Seelenlandschaften und die verschnarchte deutsche Kleinstaaterei. Der eine versenkt sich berauscht ins Nichts, der andere entlarvt den Abgrund als biedere Senke. Oder die biedere Senke als Abgrund.

Warum Martin Luther in Deutschland verklärt wird und alles andere als ein Kämpfer für die menschliche Selbstbestimmung war, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Unter dem Stichwort „Strandkorb“ lernt man bei Ihnen, dass der Rostocker Korbmacher Wilhelm Bartelmann diese bald weltweit erfolgreiche Errungenschaft 1882 für das Adelsfräulein Elfriede von Maltzahn in Warnemünde erfunden hat, als Sonnenschutz. Was hat Sie selber bei Ihren Forschungen überrascht?

DORN: Vieles. Als ich Martin Luther wieder las, stellte ich fest, dass die evangelische Kirche uns mit einem fragwürdigen Lutherbild traktiert. Im Vorfeld von 2017, dem 500-jährigen Jubiläum der Reformation, geht das schon los. Man macht Luther zu einem leicht zu vereinnahmenden Menschenfreund, der darüber nachgesonnen habe, wie wir Gott gnädig stimmen, indem wir uns kuschelig und mit dem fröhlichen Tralala der heutigen Kirchentage mit dem lieben Gott gemein machen.

Was ist dagegen Ihr Lutherbild?

DORN: In vielen seiner Texte ist dieser Berserker von Reformator buchstäblich gnadenlos. Da regiert kein gnädiger Gott, sondern ein allmächtig willkürlicher, dessen Gnade wir nicht einmal durch Buß und Reu sicher erwerben können. Das führt den ganzen EKD-Trostkitsch ad absurdum. Wenn uns Luther als Freiheitskämpfer präsentiert wird, vergisst man seine zentrale Kampfschrift „Vom unfreien Willen“, die auf Erasmus von Rotterdams Traktat „Vom freien Willen“ mit der These antwortet, dass der Mensch mitnichten sein Schicksal steuern könne. Das ist für uns heute doch eine immense Provokation! So etwas lassen wir uns sonst allenfalls von den etwas unheimlichen Hirnforschern sagen, aber nicht von einem Nationalhelden. Doch bei Luther wird es nicht wahrgenommen, weil die Deutschen ihre Geschichte und ihren Seelengrund, außer mit dem verengten Blick auf 1933 - 45, weitgehend verdrängt und vergessen haben.

WAGNER: Wenn wir einen wie Luther feiern, dann wird es zum „Event“, eine Figur zum Miterleben. Früher wurden wir von Ideologien oder Religionen geleitet, mehr schlecht als recht. Aber immer ging es um etwas Ernstes. Heute dominiert die Ideologie des Unterhaltsamen. Diese Spaßkultur ist politisch korrekt, also keinesfalls anstößig, und die Mehrheit ist ihr Souverän. Das ist die FSK-Republik. Auf das Wort Freiwillige Selbstkontrolle konnten auch nur die Deutschen kommen. Und die Kirchen spielen mit und werden zu Serviceagenturen – anstatt sich um den Glauben zu kümmern, auf Teufel komm raus! Sie sind Sozialsorger statt Seelsorger. Auch hier geht die Seele flöten.

Jetzt klingen Sie ein bisschen wie der Papst.

WAGNER: Ich denke, dass Kirchen, wenn überhaupt, viel weniger mit dem Staat und der Gesellschaft zu tun haben müssten als mit dem Glauben. Sie sind die Verwalter des Metaphysischen. Sonst verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit.

Sie diagnostizieren eine spirituelle Leere.

DORN: Absolut. Ich beobachte eine wachsende Ratlosigkeit, sich in der globalisierten Welt zu behausen und so etwas wie Heimat zu finden. Das führt in eine neue Biedermeierlichkeit mit ihren Retro-Nostalgien, obwohl äußerlich alles hipper aussieht als in den 50er Jahren. Ein Musterbiotop des neuen Biedermeier ist in Berlin der Prenzlauer Berg, wo gut situierte Nichtraucherfamilien Kinder kriegen, für die sie am liebsten schon in der Kita Riesterrenten abschließen würden.

Sie haben mehrfach den „Abgrund“ erwähnt. Darin schlummert unsere Seele?

DORN: Thomas Mann schrieb im Ersten Weltkrieg in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“: „Das Deutsche ist ein Abgrund, halten wir fest daran.“ Beim „Abgrund“ spannt sich ein Bogen von Büchner oder Nietzsche zu Wagner, Heidegger und heute. Aus Angst vor dem Abgrund wollen wir immer zu groß oder zu klein sein. Entweder superkosmopolitisch alles Fremde besinnungslos umarmend. Oder in uns selbst zurückfallend als verhärtete Einzelne, Verinnerlichte, Tümelnde. Zwischen der Alternative Weltbürger oder Kleinbürger müsste doch ein tieferes Terrain liegen. Nicht nur Abgrund, sondern auch Grund! Dazu soll unsere Suche nach der „deutschen Seele“ beitragen.

Thea Dorn (geb. 1970 im hessischen Offenbach) und Richard Wagner (geb. 1952 im rumänischen Banat) erkunden in ihrem Band die deutsche Seele. In 60 Kapiteln schreiben die beiden Autoren – sie evangelisch sozialisiert, er katholisch – eine Kulturgeschichte des Deutschen, geleitet von der Sehnsucht, das eigene Land kennenzulernen.

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