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Patchwork-Familie. Im Fernsehen waren alte Eltern noch nie ein Problem. In der Serie "Ich heirate eine Familie" , die 1983 startete, war Peter Weck Anfang 50 - und spielte den Vater eines Kleinkinds. Thekla Carola Wied, die Darstellerin der Mutter, war um die 40.

© Dieter Klar/ picture alliance

Tanztee statt Disko: Wie es ist, mit alten Eltern aufzuwachsen

Harald Martenstein schrieb vergangene Woche, wie er sich als alter Vater fühlt. Aber wie geht es dem Kind dabei? Unsere Autorin hat alte Eltern. Sie schildert die andere Seite.

Meine Familie hat mindestens eine Generation übersprungen. Als mir diese Formulierung einfiel, war ich ungefähr 15. Ich verwende den Satz noch heute, mit 38, wenn ich kurz und knapp erklären will, was meine Familie von den meisten anderen unterscheidet. Trotzdem ist mir erst vor Kurzem so richtig klar geworden, was das tatsächlich bedeutet. Und in welcher Weise das Alter meiner Eltern mein Leben beeinflusst hat.

Meine Mutter war 44, als sie mich 1976 zur Welt brachte, mein Vater 52. Was für heutige Verhältnisse nur noch mittelmäßig ungewöhnlich ist, galt in den Siebzigern als so abwegig, dass der Gynäkologe meiner Mutter zunächst nicht darauf kam, dass sie ein Baby im Bauch haben könnte, und stattdessen einen Tumor oder eine Zyste vermutete. Erst die Krankenschwester kam auf die Idee, einen Schwangerschaftstest zu machen. Das war eine immer gern erzählte Familien-Anekdote. Ich fand sie auch lustig.

„Sind das deine Eltern oder deine Großeltern?“, die Frage habe ich natürlich immer mal wieder gehört im Lauf meiner Schulzeit. Manchmal habe ich mich dann im ersten Moment etwas geärgert. Aber eigentlich fand ich solche Bemerkungen nicht so schlimm. Etwas ärgerlich wurde ich zum ersten Mal auf meine Eltern, als ich mit zwölf oder dreizehn verstand, was das Down-Syndrom ist. Eine Behinderung, die mich hätte treffen können, eher als andere. Aber der Ärger verging wieder, als ich mich näher damit beschäftigte.

Mein Vater hat seinen Enkel nie kennengelernt

Ich hatte keine Großeltern und vermisste sie unbekannterweise sehr. Aber ich wusste mir zu helfen: Ich adoptierte einfach regelmäßig irgendwelche älteren Frauen als Omas, etwa Nachbarinnen und Ferienbekanntschaften. Problem gelöst.

Als mein Vater mit 80 starb, war ich 28. In den letzten zwei Jahren seines Lebens hatte ich ihn im Pflegeheim besucht. Aber so etwas passiert auch Kindern von jüngeren Eltern. Ich vermisse ihn. Und ich finde es schade, dass er seinen Enkel nie kennengelernt hat. Aber der Knackpunkt, der Kern des Problems, der liegt woanders.

Es waren die neunziger Jahre, ich war 16 und wollte in die Disko. „Sag mal, so rein theoretisch, wenn ich mal am Samstagabend ausgehen möchte, wann müsste ich dann zu Hause sein?“, fragte ich meine Mutter. Sie selbst sei in den Fünfzigern ja immer nachmittags zum Tanztee gegangen – von fünf bis acht, antwortete sie allen Ernstes. Ich hatte so etwas erwartet, ließ das Fragen sein und stieg stattdessen aus dem Fenster unserer Erdgeschosswohnung, als meine Mutter im Bett war.

Meine Mutter verbrachte mehr Zeit im Luftschutzkeller als beim Spielen

Was mir erst vor Kurzem klar wurde: Die Anekdote ist eins von vielen Puzzleteilen der Erklärung, warum ich mich immer anders und fremd fühlte zwischen Gleichaltrigen. Überall außerhalb meines Elternhauses. Bei uns nämlich herrschte eine Art andere Zeitrechnung – die meiner Eltern. Es war ein Spagat zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dazu gehörten harmlose Details wie der altmodische Musikgeschmack meiner Eltern – Adriano Celentano und Wiener Walzer. Aber vor allem war die Zeit des Krieges in unseres Familie überpräsent. Meine Mutter erzählte von Bombennächten im Keller und im Luftschutzbunker. Dort verbrachte sie in ihrer Kindheit mehr Zeit als beim Spielen. Sie war 13, als der Krieg vorbei war.

Mein Vater berichtete, wie ihm als Soldat in Griechenland ein Finger abgeschossen worden war und wie er die letzte Nacht vor Kriegsende in einem brennenden Eisenbahnwaggon erlebt hatte. Meine Eltern waren sich in ihrer Silvester-Abneigung einig. Wir blieben grundsätzlich im sicheren Wohnzimmer. Beide hatten ein Problem mit Feuerwerk. Es erinnerte sie an die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Und zumindest für meine Mutter hatten sich Kinder unterzuordnen und nicht unbedingt eine eigene Meinung zu haben.

Die Eltern der anderen waren Hippies, ich dagegen ein Kriegsenkel

Die Eltern meiner Mitschüler wussten dagegen, wer Pink Floyd war und waren in Zeiten von Hippies und Woodstock jung gewesen – und hatten gegen die Kriegsgeneration rebelliert. Meine Mitschüler kannten Krieg nur aus dritter Hand. Ich fühlte mich anders, doch die Gründe dafür verstand ich erst später.

Für mich blieb dieses Gefühl lange diffus – bis ich in letzter Zeit häufig den Begriff Kriegsenkel las: „Kriegsenkel sind Menschen, deren Eltern die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt haben und bis heute – oft unbemerkt – unter dem Eindruck von traumatischen Erfahrungen stehen. (...) Kriegsenkel gehören in Deutschland in der Regel den Jahrgängen 1960–1975 an“, heißt es auf der Webseite www.kriegsenkel.de. Ich bin 1976 geboren – und gehöre trotzdem dazu. Erst als mir das klar wurde, hatte ich das Gefühl, dass die Puzzleteile sich zu einem Bild zusammenfügten.

Auch der kleine Sohn von Harald Martenstein wird es vielleicht ähnlich erleben – in einigen Jahren. Auch in seinem Zuhause werden die Uhren anders ticken als in den anderen Kreuzberger Haushalten, in denen Kinder leben, deren Eltern sie ganz durchschnittlich mit plus minus 30 bekamen. Wie sein Vater die Welt sieht – das kann man jede Woche in seinen Kolumnen lesen – unterscheidet sich deutlich von dem, was die Kreuzberger Durchschnittseltern von Kleinkindern so denken. Andererseits: Heute sind die Älteren gefühlt jünger als früher. Und ein Krieg ist zum Glück auch nicht im Spiel.

Auch ich bin als Mutter nicht ganz früh dran. Mein Sohn wurde geboren, als ich 36 Jahre alt war. Das geht noch, finde ich. Immerhin war ich acht Jahre jünger als meine Mutter bei meiner Geburt. Es mag albern klingen, aber es ist mir wichtig.

Ich finde es nicht schlimm, alte Eltern zu haben. Aber ich denke, es hilft allen Beteiligten, wenn man sich die Besonderheiten klarmacht. Und darüber nachdenkt, was sie mit der jeweiligen Familie anstellen. Vielleicht fühlen sich dann einige Kinder später weniger fremd in ihrer eigenen Zeit.

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