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Hans Pieler (1951 - 2012)

© Jan Windszus

Nachruf auf Hans Pieler (Geb. 1951): Die Kamera streift das Leben

Er fotografierte Leute am Strand in Australien, in den Straßen New Yorks, auf einem Markt in Kambodscha, alles in Bewegung und dennoch im richtigen Moment. Ein Mann auf der Suche nach dem nie zufälligen Zufall

Später konnte er nicht mehr genau sagen, ob es seine eigene Erinnerung oder die immer wieder erzählte seiner Eltern war: Er ist vier und steht am Gartenzaun, sagt kein Wort, beobachtet die Leute, ein Amselpaar in einer Hecke und eine Wolke, die sich vor die Sonne schiebt.

„Auf Samtpfoten muss man gehen“, hatte Henri Cartier-Bresson gesagt, „und ein scharfes Auge haben.“

Mit 13 existierte die Welt draußen ein halbes Jahr lang nicht mehr für ihn. Sechs Monate sah er sein eingegipstes Bein, weiße Wände, bettlägerige Männer und Ärzte. Doch dann entdeckte er, dass der Raum sich in der einfallenden Abenddämmerung verwandelte, Licht und Schatten ineinander abwechselten, irisierende Farbsprenkel über die Decke und bis hinein in seine Träume glitten.

Er war ein mittelmäßiger Schüler und meist allein, bevor er ins Krankenhaus kam. Er lernte konzentriert und ging auf die anderen zu, nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte. „Das Handwerk hängt stark von den Beziehungen ab, die man mit den Menschen herstellen kann“, schrieb Cartier-Bresson.

Mit 17 begann Hans Pieler ernsthaft zu fotografieren. Mit 20 stellte er seine Bilder zum ersten Mal aus. Doch sein Vater sagte: „Du kannst Fotograf werden, wenn du vorher studierst.“ Also verließ er Braunschweig, schrieb sich in Berlin an der FU ein und arbeitete nebenher als Assistent bei verschiedenen Fotografen. Nach dem Studium aber versuchte er es. Natürlich ging es auch ums Geldverdienen, die Kameras und Objektive mussten bezahlt werden und die Miete für die Ateliers, die immer weit oben lagen, in der Jebensstraße, hinter dem Zoo, wo er die Hähne krähen und die Löwen brüllen hörte, oder in der Potsdamer Straße, direkt neben dem Wintergarten. Er nahm Werbeaufträge an und beschäftigte sich mit freien Projekten, fuhr 1984 mit einem VW-Bus den Transitweg von Berlin nach Hamburg und fotografierte durch das Autofenster: Auf einem Bild ein Grenzübertritt, auf einem anderen zwei Frauen vor einem Zeitungskiosk, auf einem dritten nur Straße und Himmel, alles in SchwarzWeiß.

1990 machte er sich wieder auf den Weg, in die fünf neuen Bundesländer, großformatige Fotografien von Menschen in ihrer Straße, ihrer Küche, ihrem Wohnzimmer entstanden, ohne dass jemand auf ihnen denunziert wird. Er sprach mit den Leuten und wartete auf jenen entscheidenden Augenblick, den er immer wieder auf den Bildern von Cartier-Bresson gefunden hatte.

Seine Arbeiten wurden ausgestellt und in namhafte Sammlungen aufgenommen.

Er reiste weiter, ein Jahr lang um die Welt, fotografierte Menschen, von hinten, von der Seite, an einem Strand in Australien, in den Straßen New Yorks, auf einem Markt in Kambodscha, alles in grellen Farben, alles in Bewegung und dennoch im richtigen Moment. Er kam zurück nach Berlin, lief durch die Stadt, schoss Schwarz-Weiß-Bilder von höchster Präzision: Eine überbelichtete Frau, ein Betonmischer, dahinter die glatte Fassade der Galeries Lafayette oder ein Mann, dessen Finger einen Straßenpfosten berühren, die Kamera streift das Leben, überrascht es, hält die zufälligen Augenblicke in äußerster Dichte fest.

Und er spürte dem Gegenteil des Zufalls nach, fuhr an die entferntesten Orte, zu sogenannten Kalenderbauten früherer Hochkulturen, die wie Uhren funktionieren. Er fuhr an diese Orte für ein einziges Foto, das nur in diesem einen Moment im Jahr, in dem die Sonne ihren Höchststand über dem Horizont erreicht, aufgenommen werden kann.

Im letzten Oktober flog er mit Studenten für eine Exkursion nach Mallorca. Er stand am Strand, schaute hinaus auf das Meer, blinzelte in die Sonne, vor die sich eine einzelne Wolke schob, lief ins Wasser, schwamm weit hinaus, schwamm wieder zurück, tat einige Schritte im Sand und fiel um, in einem viel zu frühen Augenblick.

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