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Saisondämmerung. Nach der Saison ist Pokalfinale ... und dann Champions-League-Endspiel. Und Helene Fischer, die kommt ja auch!

© Kai-Uwe Heinrich

Sommer 2004: Baustelle Berlin: Das Olympiastadion wird eröffnet

Vier Jahre haben Bauarbeiter Tribünen eingerissen und neu errichtet, am Ende waren sie pünktlich. Hier ist die Geschichte des Umbaus von 2000 bis 2004.

Mit der Hand strich Klaus Böger über den Ledersessel und erzählte eine kleine Anekdote. Im Senat habe es vor einiger Zeit eine Diskussion gegeben, wie groß die Sitze auf der Ehrentribüne des Olympiastadions sein müssten, erzählte Berlins Sportsenator. „Ja, wirklich! Stellen Sie sich vor, ein Staatspräsident passt bei der Fußball-WM nicht in den Sitz. Das wäre unangenehm.“ Böger musste wohl an einen Mann mit einem großen Bauch denken, jedenfalls konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Ein Präsident, zu dick für die WM 2006! Jetzt sind die Ehrensitze 54 Zentimeter breit; das sollte reichen.

Pikante Details wie diese wurden auf hunderten Papieren festgehalten. 85 mal 120 Zentimeter sind sie groß, fein gefaltet und akkurat geheftet. „Architekturplan“ steht auf jedem Papier. Hans-Wolf Zopfy kennt sie alle, denn er war der Projektleiter der Walter-Bau AG, die ihre Filiale auf dem Olympiagelände eingerichtet hatte. Zopfy sah zuletzt entspannt aus. „Wir sind am Ziel“, hat er dann gesagt, „und wir sind pünktlich.“

Die Büros von Walter-Bau waren vier Jahre die Schaltzentrale für bis zu 1000 Arbeiter. Wie oft Zopfy ins Stadion gefahren ist? Wie oft er zu spät nach Hause kam? Wie oft er geflucht hat? Er weiß es nicht, es ist ihm auch egal. 48 Monate Bauzeit liegen hinter ihm, 242 Millionen Euro wurden investiert, 300.000 Kubikmeter Erdreich bewegt, alles bei laufendem Spielbetrieb. „Wir sind pünktlich“, sagt Zopfy. „Nur das zählt.“

Am 3. Juli 2000 machte Bundeskanzler Gerhard Schröder den Anfang. Ihm folgten die Bauarbeiter und rissen als erstes die Westkurve ein. Im Uhrzeigersinn gingen die Arbeiten weiter. Im Sommer 2002 sah das Stadion aus wie eine Ruine. Es konnte nur besser werden. Es gab Tage, da schien es mit der Pünktlichkeit im Olympiastadion so weit her zu sein wie auf den Bahnhöfen der Deutschen Bahn. Im Januar 2002 bargen Arbeiter eine 250-Kilo-Fliegerbombe in der Westkurve. Zopfy musste seine Arbeiter bremsen und hetzen zugleich. Die Arbeiten waren in Verzug. Ein halbes Jahr zuvor hatten sie den krebserregenden Stoff PCB unter den Tribünen gefunden. Fünf Monate waren die Arbeiter plötzlich hinter dem Zeitplan. Das war normal für die Branche, aber unverständlich für alle anderen.

Das Olympiastadion: komplett saniert, Sandstein gereinigt, das Spielfeld um drei Meter gesenkt. Hunderte Lastwagen donnerten in der Sommerpause 2002 ins Stadion und trugen die Erde hinaus. Bis dahin hatte Hertha BSC auf einem Sandsockel gekickt, zwischen Spielfeld und Tribüne hatten Arbeiter einen tiefen Graben gebuddelt. So entstand auf Herthas Geschäftsstelle der Treppenwitz: „Wir spielen auf hohem Niveau.“ Das war böse, denn Hertha spielte schlecht, die Fans blieben zu Hause, nur die Sandberge wollten nicht verschwinden.

Dieter Hoeneß: "Ich habe das Olympiastadion fast verflucht"

Doch das war nicht einmal der Tiefpunkt, der kam Wochen später. Herthas Manager Dieter Hoeneß blickte eines Tages im Herbst 2003 auf die Haupttribüne und sah statt Fans nur Schutt und Stahlträger, die in den Himmel ragten. Es waren die Stützen der alten Haupttribüne. Zwei Jahre Bauzeit hat dieser Abschnitt in Anspruch genommen, „ich habe das Stadion fast verflucht“, sagt Hoeneß heute, „jetzt bin ich beeindruckt“.

Dabei ist die Untergrundwelt des Stadions noch viel beeindruckender. Projektleiter Zopfy kennt den Weg hinab, er führt am Südtor vorbei, hinter den Stadionterrassen rechts rein zum „Tunneltor“. So steht es am Pförtnerhäuschen. In der Jesse-Owens-Allee liegt die VIP-Einfahrt, sie ist gesäumt von hohen, dicht stehenden Bäumen. Nach wenigen Metern taucht ein Steinbogen auf, der Tunneleingang: das Tor in die Tiefe. Die Fensterscheiben der alten Gebäude nebenan sind zerschlagen. 300 Meter sind es noch ins Stadion, in zehn Meter Tiefe versteht sich. An einem kleinen Lichthof befindet sich die neue Polizeiwache, daneben die Röhre zum Parkplatz für acht Busse. 400 Meter nördlich lugt die Röhre wieder aus dem Boden hervor.

Der Wagen bleibt untertage und rollt zum Parkhaus. Zwei Ebenen, 500 Stellplätze, unter dem Südtor gelegen. Dahinter befindet sich die Großküche, in der bis zu 6000 Portionen zubereitet werden. In die Röhre passt sogar ein 40-Tonner. Die Staatschefs werden später am Küchenstahltor vorbei in eine Halle geleitet, sie liegt unterhalb des Vorplatzes der Haupttribüne. Eine Wand aus Lampen brennt hinter Milchglas, von oben dringt Tageslicht in die Tiefe. Über eine Steintreppe geht es hinauf zur Ehrentribüne.

Alles ist neu und doch alt. Die Steinplatten wurden beim Abnehmen mit einem Aufkleber und einer Nummer versehen und nach der Fertigstellung des Rohbaus an alter Stelle befestigt. 65000 Quadratmeter Steinplatten, sie lagerten auf dem Maifeld. Ein gigantisches Puzzle, vielleicht das größte der Welt.

Die neuen Lautsprecher heißen "Bananen"

Von den Stahlträgern, die einst so karg in den Himmel ragten, ist nichts mehr zu sehen. Im Innern des Stadions hat Walter-Bau zwei weitere Etagen in die Tiefe gebaut. Sechs sind es insgesamt, vier davon unterirdisch, verbunden durch ein Treppenhaus aus Stahl und Holz. In der untersten Ebene geht es zu den Kabinen.

Draußen sitzen die Zuschauer, auch für sie ist vieles neu. Vor dem Umbau mussten die Toiletten nicht nur aus ästhetischen Gründen gemieden werden. Die Übergangslösungen, Container und hunderte Dixi-Klos, waren oft noch abenteuerlicher. Jetzt gibt es 800 Toiletten, groß und luftig. Die Anzeigetafel wurde ausgetauscht und ist jetzt die größte Europas. Die Beleuchtung: Sie ist so ausgerichtet, dass die Tribünen in kompletter Dunkelheit liegen, während auf dem Rasen, der Bühne, Fußball gespielt wird.

Ach, die Lautsprecher: Früher sahen viele Fans im Unterring nur die Hälfte vom Spiel, weil die kolossalen Kästen über dem Graben angebracht waren. Heute ist die Sicht größtenteils frei, und niemand muss einen Hörsturz fürchten. Die Arbeiter haben die „Bananen“ in der Dachkonstruktion angebracht. So werden die krummen Lautsprecher auf der Baustelle genannt. Auf 95 Dezibel sind sie eingestellt und so ausgerichtet, dass auf jedem Platz dieselbe Lautstärke vernommen werden kann. Nach draußen soll nun weniger Lärm dringen als vor dem Umbau. Nur einmal, vor vier Wochen, da haben sich sogar die Menschen auf dem Teufelsberg erschrocken. An diesem Abend wurde im Stadion der Ernstfall geprobt. „Terroralarm, Panik und so“, hat der technische Direktor Detlef Reichenbacher geschrien, obwohl sein Gesprächspartner neben ihm stand. 107 Dezibel, die maximale Lautstärke. „Das ist um ein Vielfaches lauter, als es ein Torjubel jemals sein kann.“ Die Ansage überhört niemand.

Die Zeit der Staublungen ist vorbei, auch die, während der es auf dem Spielfeld still war, obwohl die Fans schrien. Das Dach, ein gigantisches Stahlskelett aus hellen Stoffbahnen, ist fertig. 3500 Tonnen Stahl, 6000 Quadratmeter Glas, 31000 Quadratmeter Stoffbahnen, Kosten: 26 Millionen Euro. Es ragt 68 Meter über das Spielfeld hinaus, Projektleiter Zopfy spricht von „Genialität“. Vorbei der Schmutz, die schlechte Laune.

Neulich lief Zopfy noch einmal über das Gelände, die Wiesen über den Tiefgaragen waren schon grün. Dann blieb Zopfy stehen, vor ihm ragte eine alte Eiche empor, die Äste breit und lang. Zopfy klopfte an die Rinde. Die Eiche am Osttor ist das Einzige, das die Bauarbeiter nie angerührt haben. Zopfy wird den Baum vermissen.

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