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Mehr Berlin: Zieht die Bezirksgrenzen neu!

Warum gehört die Kastanienallee zu Mitte und das Maybachufer zu Neukölln? Viele Berliner Straßen liegen im falschen Bezirk. Zeit für ein paar Korrekturen.

Ich kam nach Berlin mit drei Gewissheiten: Erstens ziehe ich in die aufregendste Stadt weit und breit, zweitens kann jetzt endlich das gute Leben beginnen, und drittens wird meine Wohnung im lebendigen, aber behüteten Prenzlauer Berg liegen. Direkt am Zionskirchplatz.

Ich brauchte Wochen, um einzusehen, dass der extrem prenzlauerbergige Straßenzug trotz Second-Hand-Laden und Fußbadcafé formal zum anstrengenden Bezirk Mitte gehört. Das durfte nicht sein. Ebenso die angrenzende Kastanienallee: eigentlich ein Markenzeichen von Prenzlauer Berg, tatsächlich aber zu einem Drittel von Mitte verwaltet. Es gibt ein Schild mit der Aufschrift „Mitte“ auf Höhe der Schwedter Straße, das die Grenze zum Bezirk Mitte anzeigten soll. Jemand hat ein großes „T“ über den Anfangsbuchstaben drübergeklebt. Niemanden stört’s. Niemand vermutet hier ein Bezirksschild.

So geht es einem häufig in dieser Stadt: Straßen liegen nicht in den Bezirken oder Ortsteilen, zu denen sie eigentlich gehören sollten. Das KaDeWe am Wittenbergplatz befindet sich gefühlt in Charlottenburg, tatsächlich aber in Schöneberg. Die Kochstraße mit ihrem starken Autoverkehr, dem ästhetischen Ungetüm einer Versicherungszentrale und den Touristenhorden vom nahen Checkpoint Charlie sieht zweifellos nach Mitte aus, gehört aber zu Kreuzberg. Und als Thilo Sarrazin neulich vom ZDF durch Kreuzberg geführt werden sollte, um zu prüfen, wie der Ex-Banker nach seinem Buch bei den dort lebenden Türken ankommt, brachte ihn die Journalistin als Erstes auf den Wochenmarkt am Maybachufer – das liegt aber ausgerechnet in Neukölln. Weder der Sender noch Sarrazin scheinen das gemerkt zu haben. Gefühlt ist dort nämlich Kreuzberg.

Entscheidend ist nicht, was das Bezirksamt mir sagt. Entscheidend ist, was mein Herz mir sagt. Vor zehn Jahren trat die letzte große Gebietsreform in Kraft, bei der die 23 Berliner Altbezirke auf zwölf zusammengeschmolzen wurden. Es ist Zeit für ein paar Korrekturen.

Es geht nicht um Profilbildung oder touristische Vermarktbarkeit der Kieze. Es geht ums Gefühl. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Zum Beispiel die Brückenstraße südlich der Jannowitzbrücke. Ein Blick genügt: das Tätowierstudio neben der Wasserpfeifen-Bar, der 24-Stunden-Späti nicht weit vom Herrenfriseur „Orient Style“, wo der Haarschnitt nur acht Euro kostet. Direkt gegenüber „Gittis Bierbar“. Jeder weiß, dass hier Kreuzberg ist. Nur die Stadtplaner nicht, die immer noch glauben, die Brückenstraße sei Teil von Mitte.

Bezirksgrenzen sind nicht unverrückbar. In den neunziger Jahren wollte der Senat tatsächlich Friedrichshain mit Lichtenberg fusionieren und Prenzlauer Berg mit Wedding. Sogar ein Gebilde namens „Kreuzberg-Mitte-Tiergarten“ war angedacht. Wer so etwas plant, sollte heute gegen einige minimalinvasive Eingriffe nichts einzuwenden haben.

Man könnte den Handlungsbedarf sicher ökonomisch begründen. Man könnte einen Stadtwerber finden, der plausibel darlegt, dass Grenzbegradigungen der touristischen Vermarktbarkeit einzelner Bezirke dienen: klare Profilbildung. Unique selling point. Blabla. Aber eigentlich geht es hier nicht ums Geld. Es geht ums Gefühl. Im falschen Bezirk zu wohnen ist ein bisschen wie im falschen Körper zu wohnen. Es fühlt sich einfach nicht richtig an.

Manche werden sich sträuben und scheinheilig fragen, ob die Berliner denn keine drängenderen Probleme haben, für die es sich lohnt, Geld auszugeben. Klar haben sie. Aber erstens zieht dieses Argument nicht in einer Stadt, in der Millionenspenden für Schlossfassaden verplempert werden. Und zweitens wären die Kosten überschaubar. Ein paar Straßenschilder müssten versetzt, Datenpakete zwischen Finanzämtern getauscht werden, das war’s. Selbst die Postleitzahlen blieben dieselben. Würden Berlins landeseigene Unternehmen ein einziges Mal darauf verzichten, das Sommerfest im Roten Rathaus mit dubiosen Spenden zu unterstützen, könnte das eingesparte Geld locker alle Begradigungen finanzieren. Vor drei Jahren wurde schon einmal korrigiert, ohne Aufsehens: Friedrichshain-Kreuzberg trat 4000 Quadratmeter Uferfläche an Treptow ab, Lichtenberg schenkte Friedrichshain ein paar Ecken und kriegte dafür von Pankow etwas zurück. In einer Senatsmitteilung wurde extra betont, die Neuregelung spare der Verwaltung sogar Geld.

Gerade jetzt, im Gedenkjahr des Mauerbaus, sollte jedem bewusst sein: Grenzen, die keinen Sinn machen, müssen weg. Oder wenigstens verschoben werden. Der Handlungsbedarf ist riesig. Ein Freund sagt: Der Entenschnabel, der Glienicke zugeschlagen wird, gehört nach Frohnau. Alles östlich der Westtangente gehört nicht nach Steglitz, sondern nach Schöneberg. Ein anderer würde Marienfelde gern von Tempelhof-Schöneberg loslösen und Steglitz-Zehlendorf anbieten. Und dann ist da noch der sonst liebenswerte Bekannte, der fordert, Schöneweide müsse aus Treptow-Köpenick aus- und wem auch immer angegliedert werden. Er lebt in Köpenicks Altstadt und bangt um den Spitzenplatz seines Bezirks im Sozialstrukturatlas.

Nun, vieles wird Verhandlungssache sein. Bezirke werden Filetstücke nicht ohne Gegenleistung abgeben. Es wird diplomatisches Geschick erfordern, auch von Senatsseite. Es müsste eben nur mal jemand die Initiative ergreifen. Den Stein ins Rollen bringen.

Anruf beim Kreuzberger Bezirksbürgermeister. Ja, es stimmt eindeutig, sagt Franz Schulz, viele Menschen fühlten sich Kreuzberg zugehörig, obwohl ihre Straße formal in einem anderen Bezirk liege. Kreuzberg stehe schließlich für ein Lebensgefühl! Und was halten Sie, Herr Schulz, dann von folgendem Tausch: Die Köpenicker Straße geht komplett an Kreuzberg, Mitte kriegt dafür die hässliche Kochstraße? Es wird still am anderen Ende der Leitung. Nein, sagt der Bürgermeister, das Verlagsviertel gehöre doch historisch zu Kreuzberg, das sei ganz wichtig, also keine Chance. Okay, verstanden. Herr Schulz pokert noch.

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