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Stolpersteinlegung: Der Künstler Gunter Demnig mit dem Enkelsohn der Vandewarts, Peter Evens aus London.

© Mike Wolff

Stolpersteinverlegung im Westend: Odyssee eines Abschiedsbriefes

Vor der Deportation nahmen sich Anna und Eugen Vandewart 1941 das Leben. Der Abschiedsbrief an ihre drei Töchter erreichte diese nie - bis ihn Studentinnen im Landesarchiv entdeckten. Die Geschichte zweier Stolpersteine.

Anne Vittens Stimme zittert, als sie im Schatten des Kirschbaums den Abschiedsbrief verliest. „Wir sind jetzt ganz ruhig und heiter, wie schon lange nicht. Wir haben zu Abend gegessen, trinken jetzt Wein und gehen dann in die Küche zu unserem letzten Schlaf.“ Vor Vitten in die Erde eingelassen sind zwei Stolpersteine für die Verfasser dieser Zeilen: das jüdische Ehepaar Eugen und Anna Vandewart, das sich vor der Deportation 1941 das Leben nahm. Am Sonnabend verlegte der Künstler Gunter Demnig die zwei Gedenkplatten vor dem damaligen Haus der Vandewarts in der Kirschenallee in Westend.

Der Abschiedsbrief, den Vitten zu diesem Anlass vorlas, war an die drei Töchter des Ehepaares gerichtet und hätte sein Ziel beinahe nie erreicht: Mehr als 70 Jahre lang lagerte er in dicken Polizeiakten im Landesarchiv, bis Studentin Vitten und ihre Kommilitonin Wiebke Zeil ihn im Rahmen eines Seminars an der HU entdeckten.

"Ein unbeschreibliches Gefühl"

„Das Schicksal der Familie ließ uns nicht mehr los“, sagt Zeil. Über Wiedergutmachungsakten fanden sie die Namen der Töchter heraus, eine Internetrecherche führte sie auf die Spur eines Enkels der Vandewarts in Neuseeland. Von ihm erfuhren die Studentinnen, dass die einzige Verbliebene der drei Töchter, Gertrude Evans, in London lebte. Und so erreichte der Abschiedsbrief der Vandewarts schließlich sein Ziel – fast drei Monate, nachdem Zeil und Vitten ihn entdeckt hatten. Doch zu dem geplanten Treffen mit Evans in London kam es nie. Bevor es soweit war, verstarb die 93-Jährige, so dass die Studentinnen nur noch die Gedenkfeier für sie besuchen konnten. „Es ist trotzdem ein unbeschreibliches Gefühl für uns, dass sie vor ihrem Tod noch die letzten Worte ihrer Eltern lesen konnte“, sagt Zeil.

Den einzigen Ausweg sahen sie im Selbstmord

Gemeinsam mit den Nachfahren haben die Studentinnen mittlerweile viele Informationen über das Leben der Vandewarts zusammengetragen, die als Angehörige der jüdischen Mittelschicht lange Zeit ein angenehmes Leben führten. Vater Eugen war als Ingenieur in Siemensstadt tätig, wo er sich mit der Konstruktion von U-Booten beschäftigte. Nach der Progromnacht am 9. November 1938 verschleppte man ihn jedoch ins KZ Sachsenhausen. Nach seiner Rückkehr wurde er zum Zwangsarbeiter.

Tochter Gertrude verlor ihren Studienplatz an der Musikhochschule. 1939 emigrierte sie mit ihren Schwestern Eva und Marie nach Großbritannien. Direkter Kontakt zu den Eltern war ab diesem Zeitpunkt unmöglich. Diese sahen den einzigen Ausweg im Selbstmord, als sie 1941 ihren Deportationsbescheid erhielten. „Es verging kein Tag, an dem Gertrude nicht an die Zeit in der Kirschenallee gedacht hätte“, sagt ihr Sohn Peter Evans, der für die Stolpersteinverlegung anreiste. Besonders gern habe sich seine Mutter daran erinnert, wie sie als kleines Mädchen vom Fenster aus auf die Köpfe der Passanten gespuckt habe. „Es ist ein Stück Lebensgeschichte inmitten dieser schrecklichen Historie.“

"Man kann ihnen etwas zurückgeben"

Mehr als 5500 Gedenksteinen gibt es mittlerweile in Berlin, und am Wochenende kamen nicht nur die beiden für die Vandewarts hinzu. Auch in der Charlottenburger Kuno-Fischer-Straße wurden vier der kleinen Gedenktafeln aus Messing in den Boden eingelassen. Sie erinnern an die Familie Danziger, die dort von 1929 bis 1933 lebte. Nach der Machtübernahme floh der Jurist Erich Danziger mit seiner Frau Edith und den Kindern Ellen und Hans Ernst nach Frankreich, wo Vater und Sohn jedoch 1943 und 1942 verhaftet und in Konzentrationslagern umkamen. Heute lebt in dem Haus der Familie die 71-jährige Birgit Schmidt-Bartsch. Sie setzte sich gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar für die Stolpersteinverlegung ein, nachdem sie zufällig den Nachfahren der Danzigers begegnet war. „Das ist etwas, was man ihnen zurückgeben kann“, sagt sie.

Ähnlich sehen das die Studentinnen Anne Vitten und Wiebke Zeil, die für die Vandewart-Stolpersteine eine Spendenkampagne im Internet starteten. Im Rahmen des Uni-Seminars haben ihre Kommilitonen die Geschichten weiterer ermordeter Juden recherchiert. Gemeinsam sammelten die Studenten auch Geld für sechs andere Stolpersteine, die im kommenden Jahr verlegt werden sollen.

Sehen Sie hier die Bildergalerie zu den Stolpersteinen in Erinnerung an David und Helene Reich, die Eltern des vor einem Jahr verstorbenen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki.

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