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Signierstunde mit Egon Krenz: Unter Sauriern

Diese Stimme, dieser Singsang – vergessen und doch wohl bekannt. Hunderte kommen, als Egon Krenz in Mitte ein neues Buch vorstellt. Über Walter Ulbricht, die DDR und Moskau. Doch es wird ein Abend in eigener Sache.

Als im Westen die Sonne zur Erde sinkt, meldet sich vor der Tür des Volkes Stimme im Chor: „Egon, Egon“, ruft ein Dutzend alter Herrschaften durch die Scheibe. Und: „Wir wollen rein!“ Egon kann die Leute aber jetzt nicht reinlassen, der stickige Saal hier mitten in Berlins Mitte ist schon rappelvoll, aber der Mann, nach dem sie rufen, weiß, was er seinen letzten Fans schuldig ist. Deshalb erhebt er sich von der kleinen Bühne, vor der schon hundert Menschen geduldig mit ihm und auf ihn warten, er drängelt sich durch die Weißhäupter, die für ihn auseinanderrücken, geht zur Tür und spricht mit den Leuten, die ihm noch zuhören wollen, ja ihm, Egon Krenz, dem Verstoßenen, der nun Hände schüttelt, sich schulterklopfen lässt.

Drinnen heben sie erhaben die Augenbrauen: Schau an, der Egon und die Leute, das geht vielleicht doch noch zusammen, nach all dem Spott über seine Stanzen und seine Zähne, nach seiner Verurteilung wegen Totschlags an der Mauer, nach dem peinlich berührten Schweigen, auf das er täglich stieß, als er nach seinem Fall durch die Pankower Kaufhalle lief, die plötzlich ein Supermarkt war, und jeden grüßte; nach all den Plakaten auf den Straßen: Wo sind die Fans von Egon Krenz? Nach all den Jahren und „unserer Niederlage“, wie er den Untergang des Staates nennt, dem er mal vorstand. So kurz. So kurz vor dem Ende.

Als Egon Krenz wieder eintritt in den Raum, empfängt ihn ein wohliges Nicken aus den engen Stuhlreihen; nur zwei Witzbolde rufen von hinten: „Erich, Erich“. Aber Erich ist schon tot, wie so viele, Walter sowieso. Erich war der Vorgänger von Egon in dem Staat, den es schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu geben scheint und der doch nicht verschwunden ist aus vielen Köpfen und aus manchen Herzen zumindest in diesem engen Raum, in dessen Ecke es das Bier „Roter Oktober“ in Schultheiß-Flaschen zu kaufen gibt. Hier an der Torstraße im Kulturladen der „Jungen Welt“, der ehemaligen Jugendzeitung dieses ehemaligen Staates, die nicht untergegangen ist und heute eine Rentnerzeitung ist, genau hier findet heute eine Trauerstunde der letzten Lebendigen statt. Auf der anderen Straßenseite knallen im hippen „Soho-House“ die Korken der neuen Zeit in einem alten DDR-Parteigebäude, und über die Straße ziehen die Hostelhorden des wiedervereinigten Europas, während hier drüben die alten Herzen der Genossinnen und Kameraden noch einmal schneller schlagen. Denn Egon hat ein Buch über Walter geschrieben. Den Vorgänger von Erich.

Da hebt sie an, diese Stimme, vergessen und doch so bekannt. In ihrem sonoren Singsang zwischen Hoch und Tief, Laut und Leise, Egon und Krenz. „Liebe Genossinnen und Genossen“, sonorte er einst den Menschen zu, als es drauf ankam für ihn und seine DDR. Niemand fühlte sich angesprochen, als er das Wort Wende erfand, eine Wende, die es jetzt einzuleiten gelte, natürlich durch ihn, doch die Wende war längst weiter, sie fegte einfach über Egon hinweg. „Liebe Anwesende, liebe Freunde“, beginnt Krenz, 76, Rückzugswohnort Ostseebad, an diesem Mittwochabend hier an diesem öffentlichen Rückzugsort. Er liest nichts vor. Sein Vortrag wird 46 Minuten dauern.

„Was ist das Neue?“ So hat Walter Ulbricht oft seine Reden begonnen. Der sächselnde Apparatschik von sowjetischen Gnaden, als welcher der Erbauer der DDR im deutschen Geschichtsbuch zu finden ist, war durchaus eine neugierige Natur. Seine Worte griffen durch: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ – „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ – „Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport.“ Doch im Rückblick und im Vergleich mit seinen Nachfolgern war Ulbricht eine vielfältige, fast schon schillernde Persönlichkeit. Ein Kämpfer gegen die Nazis, eigentlich Sozialdemokrat, dann Kommunist, Verfolgter und Verfolger, Staatsgründer und Einsperrer, Tischtennisspieler, wirtschaftlicher Fehlplaner, wissenschaftlicher Träumer, treuer Diener der Sowjetunion und doch zuweilen ihr kleiner Widerpart, immer Anhänger eines einigen Deutschlands und doch Mauerbauer, Angsthase beim Volksaufstand und nach der Niederschlagung politischer Gewinner, Theoretiker des Sozialismus und doch Kalter Krieger, bescheidener Sachse mit Fistelstimme und Ziegenbart, Machthaber und -ausspieler, am Ende Verratener von den eigenen Genossen. An die Sowjets verpetzt von Erich.

Egon Krenz hat dieses deutsche Leben noch einmal zusammengestellt als Herausgeber eines Sammelbandes über Walter Ulbricht, ironischerweise erschienen im Verlag „Das Neue Berlin“. 70 alte Gefährten erzählen darin detailreich von den vielen Seiten Ulbrichts – naturgemäß ist seltener die Rede von den schlechten; nur verschlüsselt von dem internen Putsch, nach dem Ulbricht abgeschoben und mit Krankheitsbildern in der Zeitung herabgewürdigt wurde. Das Ulbricht-Stadion in Ost-Berlin, im Volksmund „Zickenwiese“, wurde umbenannt noch zu seinen Lebzeiten. „Dabei ging es nicht um Personen, nicht um Walter Ulbricht und nicht um Erich Honecker, sondern um die DDR und darum, welche Maßnahmen in der Politik und Ökonomie getroffen werden mussten, um das Land weiter zu entwickeln“, berichtet Margot auf SEDisch in dem Buch. Margot, die eisenharte Bildungsministerin, Erichs Frau, heute Witwe in der chilenischen Diaspora. Drei der Autoren sind bis zur Buchvorstellung in der Mitte des neuen Berlin verstorben. „Wir werden immer weniger“, sagt Egon.

Was ist das Neue? Vielleicht ist es die Nachsicht der bei Beerdigungen und Buchvorstellungen versammelten Genossen nach all den Jahren. Als Lotte, die Frau von Walter, vor elf Jahren in Weißensee zu Grabe getragen wurde, da reckte Egon noch am Sarg kämpferisch die Faust und rief den Trauergästen zu: „Der Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik war nicht der Tod der sozialistischen Idee.“ Heute beklagt er zwar immer noch in altgedienter Dialektik, dass „alles Schlimme der deutschen Geschichte auf den Schultern der DDR abgeladen“ werde, dass es in der alten und neuen Bundesrepublik eine „antikommunistische Gedenkkultur“ gebe und dass lieber „die Verbrechen des Kapitalismus, auf dessen Grundlage zwei Weltkriege gediehen“ seien, angeklagt gehörten.

Doch heute und hier, in dem kleinen stickigen Rückzugsraum auf der anderen Straßenseite der neuen Zeit, klingt das wie ein laues Lamentieren am Kleingartenplastiktisch, eine Nostalgie der machtlos gewordenen Mächtigen, die sich Geschichten erzählen, wie sie einst in Berlins früherer Mitte mit Teddy Thälmann Skat spielten und sich danach mit den jungen Nazis prügelten, wie sie später stolz nach Moskau fuhren und der Kreml kurz hustete und ihre kleine große DDR gleich eine Grippe bekam. Am Ende seines Vortrags, der längst keine Buchvorstellung mehr ist, sondern eine Lebensvorstellung in eigener Sache, lässt Krenz dann eine alte Parole wieder aufleben: „So wie wir heute arbeiten …“, beginnt er, und die Zuschauer antworten ihrem letzten Häuptling mit murmelnder Stimme im Chor: „… so werden wir morgen leben“. Da lachen sie kurz, nach all den Jahren. Über sich?

Krenz kannte Ulbricht kaum. Egon war gerade erst Chef der Pionierorganisation, als Walter starb im Sommer 1973 und Erich erst mal sein Jugendfestival weiterfeiern ließ, bevor der Sarg durch die Straßen von Ost-Berlin gefahren wurde, dessen Ränder Tausende säumten, wohl wissend, dass gerade mehr zu Ende ging als das Leben eines Politikers. Die Menschen hofften, dass sie auch im geschundenen Osten des geteilten Landes schon heute so leben können wie sie heute arbeiten. Erich und Egon und all die anderen, die Walter folgten und nachfolgten, haben das nicht möglich machen können und wollen, aus der DDR wurde nie eine Deutsche Demokratische Republik. Die Zeitläufte sind deshalb nicht nur über Walter Ulbricht hinweggegangen, sondern über sie alle. Das schmerzt die Weißhäupter, die Egon diszipliniert zuhören und sich danach 600 Seiten Erinnerung an Walter mit nach Hause nehmen. Ihre Gegner hatten freilich stärker zu leiden. An der Mauer bezahlten Hunderte mit dem Leben. Dazu fällt hier im alten Laden der „Jungen Welt“ kein Wort. Denn Egon Krenz, dem letzten Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, dem letzten Großgenossen seiner Art, geht es um etwas anderes: die angebliche „moralische Totalität“ bei der Bewertung der DDR. „Ich verstehe nicht, warum das alles in den Dreck gezogen wird.“ Es geht um Deutung und ihre Macht. Egon Krenz hat eigentlich ein Buch über sich verfasst.

Fragerunde. „Wir sind Saurier hier“, ruft ein Mann. „Wie soll das jetzt alles weitergehen?“ Egon zuckt die Schultern. Er hat keine weitere Parteitagsrede vorbereitet. Stattdessen erzählt er noch eineinhalb Stunden Anekdoten von Stalin und von Lotte und irgendwann zieht er sein Jackett aus, weil sein ganzes Hemd durchgeschwitzt ist, und lässt – fast gelassen – nicht nur die Sonne im Westen untergehen, sondern auch die DDR. Krenz nimmt seine goldene Brille ab, legt sie bedächtig auf die schwarze Ledertasche und sagt: „Selbst ein Mann vom Formate Ulbrichts wäre der Lage 1989 nicht mehr Herr geworden.“

Wie also hätte er, ein Mann vom Format eines Krenz, das schaffen sollen? Darüber muss er nun kein Buch mehr schreiben, der Egon.

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