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© dpa-Zentralbild

Lübbenow: Verstecktes Kind: Jennifer war nie beim Arzt

Obwohl die 13-jährige Jennifer beim Einwohnermeldeamt gemeldet war, fiel niemanden auf, dass sie nicht zur Schule ging. Auch beim Arzt sei sie nie gewesen sagte eine Sprecherin des Kreises. Dabei musste das Jugendamt schon 2005 eingreifen - bei ihrer Schwester.

Die von ihren Eltern jahrelang versteckte, behinderte Jennifer aus der Uckermark in Brandenburg ist nach Erkenntnissen des Kreises nie einem Arzt vorgestellt worden. Dies sagte Sprecherin Ramona Fischer am Freitag. Die 13-Jährige war nach einem anonymen Tipp Mitte Juli aus der Familie geholt worden. Sie trug noch Windeln und zeigte autistische Verhaltensweisen. Die Staatsanwaltschaft, die gegen die Eltern ermittelt, sprach von Verwahrlosung. Laut Staatlichem Schulamt war Jennifer beim Einwohnermeldeamt gemeldet. Wie es dazu kommen konnte, dass sie nie zur Schule ging, werde geprüft.

Auf die Eltern, die in Lübbenow in der Uckermark offenbar über Jahre eines ihrer drei Kinder von der Außenwelt abgeschottet und nicht zur Schule geschickt haben, war das Jugendamt des Kreises schon früher aufmerksam gemacht worden als bisher bekannt. Schon im Jahr 2005, ein Jahr vor den ersten Hinweisen auf die versteckte, geistig und körperlich behinderte Tochter, hatte die damalige Bürgermeisterin der Großgemeinde Uckerland, zu der Lübbenow gehört, das Jugendamt eingeschaltet. Damals sei es um die jüngste, heute 11-jährige Tochter der Familie gegangen, bestätigte die Sprecherin des Landkreises, Ramona Fischer, am Donnerstag.

Der Bürgermeisterin sei damals aufgefallen, dass es bei dem Kind, das kurz vor der Einschulung gestanden habe, Entwicklungsstörungen und -defizite gab. Daraufhin habe das Jugendamt Kontakt mit den Eltern aufgenommen und durchgesetzt, dass die jüngste Tochter eine Kindertagesstätte besucht und gezielt gefördert wird. „Die Eltern waren in dem Fall kooperativ, auch das Jugendamt hat dort ordnungsgemäß gearbeitet“, so Kreissprecherin Fischer. Das Mädchen habe dann im Herbst normal eingeschult werden können. Wie intensiv der Kontakt mit der Familie war und ob es Hinweise auf das abgeschottete Kind hätte geben können, werde derzeit noch geprüft, hieß es.

Im Jahr darauf war dann, wie berichtet, das Jugendamt von der Bürgermeisterin darauf aufmerksam gemacht worden, dass es in der Familie nicht nur zwei, sondern drei schulpflichtige Kinder gibt und dass eines der Kinder offenbar keinen Kontakt zur Außenwelt habe. Einem Mitarbeiter des Jugendamtes erzählten die Eltern dann, die Tochter sei wegen ihrer Behinderung von der Schulpflicht befreit. Nach bisherigem Kenntnisstand hat der Mitarbeiter diese Angaben nicht überprüft und keine Schritte eingeleitet. Ob der Fall personelle Konsequenzen haben wird, sei derzeit nicht absehbar, so Fischer weiter. Erst müsse die vom Landrat eingeleitete Prüfung des Falles abgeschlossen sein.

Wie berichtet, sollen die aus Berlin in die Uckermark gezogenen Eltern das heute 13-jährige behinderte Mädchen über neun Jahre im Haus versteckt haben. Mitte Juli hatte das Jugendamt das Mädchen dann nach einem erneuten Hinweis aus der Nachbarschaft aus der Familie geholt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Eltern wegen des Verdachtes der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht. Gegen das Jugendamt werde derzeit nicht ermittelt.

Die 13-Jährige werde zurzeit in einer Klinik untersucht und betreut. Die Eltern, denen Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht für die 13-Jährige zunächst entzogen wurden, halten sich mit ihren beiden anderen Kindern, der 11-jährigen Tochter und dem 14-jährigen Sohn, derzeit nicht in Lübbenow auf. „Die beiden anderen Kinder haben schon die Herausnahme der Schwester aus der Familie zu verkraften, der Medienrummel im Ort oder eine Trennung von den Eltern wären derzeit zu viel für die beiden“, sagte eine Mitarbeiterin des Kreises Uckermark. Die Familie habe im Haus als Familienverbund gelebt.

Die ehemalige Bürgermeisterin der Gemeinde, Monika Becker, die in einem Nachbarort wohnt und seit 2008 im Ruhestand ist, berichtete gestern, wie sie vor Jahren von dem versteckten Mädchen erfahren habe: „Auf einer Geburtstagsfeier in der Nachbarschaft erzählten damals Lübbenower, dass immer ein Mädchen am Fenster erscheint, wenn die restliche Familie mit dem Auto wegfährt.“ Das Jugendamt habe daraufhin erklärt, es sei zuständig, die Gemeinde müsse sich nicht darum kümmern.

Brandenburgs Bildungsministerium wies gestern die Forderung des brandenburgischen CDU-Generalsekretärs Dieter Dombrowski nach Schaffung einer zentralen Fachaufsicht für die Jugendämter zurück. Bereits 2008 habe eine interministerielle Arbeitsgruppe festgestellt, dass es „weder eine rechtliche noch eine fachliche Grundlage oder Notwendigkeit dafür gibt“, sagte Ministeriumssprecher Karsten Friedel. „Bei keinem schweren Fall von Kindesvernachlässigung oder Misshandlung hätte eine solche zentrale Fachaufsicht etwas geändert“, so Friedel.

Der Geschäftsführer der „Liga für das Kind“, Jörg Maywald, sagte im ZDF, für Fälle von Kindesisolation wie in Lübbenow gebe es meist mehrere Ursachen. Unter anderem könne auch die Beziehung zwischen den Eltern und ihrer geistig und körperlich behinderten Tochter eine Rolle gespielt haben. Maywald sprach vom „Aschenputtel-Syndrom“. Das bedeute, dass in diesem Fall die beiden Geschwister der 13-Jährigen „die guten Kinder sind, und ein drittes dann die Position des Aschenputtels hat“. (jg/dpa)

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