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Maartje Somers wundert sich über das Verhältnis der Berliner zur Bierflasche.

© Tzscheuschner

Eine spezielle Beziehung: Der Berliner und seine Bierflasche

Berliner regen sich mehr über Griller im Park auf als über Menschen auf einer harten Droge, beobachtet die Niederländerin Maartje Somers. Während in Amsterdam nur Süchtige in der Straßenbahn trinken, finden sich in Berlin Bierkastenmauern an jeder Tankstelle. Und dann schmeißt man die Flaschen kaputt.

Kreuzbergstraße beim Viktoriapark, 2. Mai. Die Straße gleißt vom Glas. Fast alle zehn Meter gibt es so ein kristallenen Stern von einer zerplatzten Flasche. Es ist gefährlich, die Füße in dem Wasserfall zu kühlen – es gibt Glas. Wenn man im Park joggen geht, hört man die Scherben knirschen.

Was ist das für eine spezielle Beziehung zwischen den Berlinern und ihren Bierflaschen? Die Flaschen sind hier so allgegenwärtig wie Bäume, und funktionieren ungefähr gleichartig, glaube ich. Sie sind einfach Teil der alltäglichen Straßenszene, niemand beachtet sie. Aber jedem Ausländer fällt das gleich auf. Wozu diese Flaschen überall? Wenn Niederländer draußen trinken, nehmen sie sich meistens eine Dose. Unterwegs beim Laufen oder in der Straßenbahn trinken in Amsterdam nur Penner und Alkoholiker. Hier ist die Berliner Bierflasche einfach eine Verlängerung des Berliner Arms.

Wo läuft man sonst mit halben Litern herum? Wo sonst ist das Bier so billig wie Wasser? Wo sonst ist nicht 0,3, sondern 0,5 die normale Portion? Und wo sonst verkauft man es wirklich überall, bis hin zur Tankstelle?

Tankstelle??!! Wie kriegt man das in den Kopf? Im Straßenverkehr darf man kaum Alkohol im Blut haben, aber an der Tankstelle gibt’s eine Bierkastenmauer? Das ist komplett verrückt, aber zeigt vielleicht am besten der Status des Biers für Berliner. Es ist wie das Benzin fürs Auto. Ohne geht es einfach nicht.

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Der Verkäufer der Tankstelle Kreuzbergstraße versteht die Frage zuerst nicht. Warum er Bier verkauft? Na selbstverständlich! Die Leute müssen es irgendwo kaufen können, die Tankstelle ist eben ein Spätkauf. Aber gibt es denn auch Bier an Tankstellen neben der Autobahn? Das findet der Verkäufer eine total doofe Frage. Aber natürlich gibt es das.

Für eine Niederländerin, obwohl dem Land von „moet kunnen“ (sprich „mutt künnen“ - „alles ist erlaubt“) entstammend, ist dies ganz merkwürdig. In Berlin gibt es ein Grillverbot, aber Alkohol an der Autobahn findet man normal. In den Niederlanden wird Cannabis geduldet, aber Alkohol entlang der Autobahn ist undenkbar. So hat jedes Land seine eigene Art selektiven Paternalismus. Plastikmüll und der Duft von verbranntem Fleisch findet man hier einfach ärgerlicher als Glasscherben und eine harte Droge.

Nur wenn am 1. Mai der Wahnsinn ausbricht, werden Flaschen verboten

Nur wenn hier wirklich der Wahnsinn ausbricht, wenn es zum Beispiel eine Menge Menschen und eine Menge Flaschen zusammen geben würde, so wie am ersten Mai, werden  Flaschen verboten. Und dennoch angelt die Polizei einen Haufen Flaschen aus der Masse und am zweiten Mai gibt es einen Glasteppich in Kreuzberg.

Natürlich, die Berliner Liebe für das Bier darf keinen Ausländer erstaunen. Und die ist auch zu erklären. Vom Mittelalter bis tief ins Neunzehnte Jahrhundert war Wasser unzuverlässig. Bier, das flüssige Brot, war ein Grundnahrungsmittel. Männer, Frauen und Kinder tranken es, große Lieferungen gingen an die Krankenhäuser. Um 1900 gab es in Berlin 250 Brauereien, schreibt Historiker Henry Gidom in sein Buch „Berlin und seine Brauereien“ (Edition Berliner Unterwelten). Die Gärung fand statt in zahlreichen unterirdischen Bierkellern. Diese Stadt wurde also, könnte man sagen, auf ein riesiges Bierfass gebaut. Obwohl es jetzt nur noch drei Brauereien in der Stadt gibt, ist das Bier noch immer überall. Die Einwohner brauchen sich also nur voll zu tanken.

Fotoreportage: Unterwegs mit dem Ordnungsamt

Hinter der Tankstelle an der Kreuzbergstraße gibt es den Getränkehandel Hoffmann. Sechzig  Prozent von deren Waren ist Bier, der Laden ist ein Paradies aus Flaschen und Kästen. „Na klar,“ so Verkäufer Daniel Leese. „Von dem Bier leben wir.“  

So wie der Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung vom Mai 2011 formuliert, herrscht in Deutschland „eine weit verbreitete unkritisch positive Einstellung zum Alkohol vor“. Jeder Deutsche konsumiert pro Jahr im Schnitt mehr als zehn Liter reinen Alkohols, am meistens Bier. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schätzt die Zahl der Alkoholabhängigen in Deutschland auf 1,5 Millionen. Auf einer ziemlich gut recherchierten Liste der alkoholisiertesten europäischen Länder, die das Magazin  „Forbes“ vor einigen Jahren erstellte, kam Deutschland auf Rang 4, nach Kroatien, Slowenien und Estland. Die ersten zehn waren alles osteuropäische Länder mit einer starken Tradition des Trinkens.

Berliner, sagt Christine Köhler-Azara, die Drogenbeauftragte des Landes Berlin, sind aber gar nicht die schlimmsten Trinker. „Im Flächenland ist es viel schlimmer.“ Und der  Alkoholkonsum unter Jugendlichen im Allgemeinen gehe leicht zurück, sagt Köhler-Azara. Den Alkoholkonsum in Berlin nennt sie unterdurchschnittlich.

Obwohl die Experten also ganz viel wissen über Berliner und ihr Bier, gibt es keine Forschung zu den Berlinern und den Flaschen. Warum trinkt man auf der Straße, und warum schmeißt man die Flaschen kaputt? Das habe man nie recherchiert, so Christine Köhler-Azara, aber sie persönlich glaubt, dass es einfach eine Mode ist. „Das hat Anfang der neunziger Jahre angefangen. Die jungen Leute hatten kein Geld für die Kneipen. Also haben sie angefangen, auf der Straße und in der U-Bahn zu trinken.“ Historiker Henry Gidom und seine Freunde trinken manchmal ein Bier auf dem Weg in die Kneipe. „So ein billiges Bier für unterwegs, oder im Park, wenn es schönes Wetter ist, darüber hab ich noch nie nachgedacht. Für mich ist das normal.“ Bierverkäufer Daniel Leeres betrachtet die Frage wirtschaftlich. „Warum in der Kneipe ein Glas Bier für einen Euro kaufen, wenn ich hier für einen Euro einen Liter bekommen kann?“

Für Alkoholiker erscheint die Flasche also als Anker im Alkoholmeer ihres Lebens. Für schnell lebende junge Leute ist sie eine bequeme und preiswerte mobile Kneipe. Das Wegwerfen der Flaschen aber nervt jeden, den ich gesprochen habe. Trotzdem machen viele Berliner das. Warum? Können die Bier-Berliner Radfahrer nicht leiden? Oder hassen Bier-Berliner ihren Stadtgenossen mit Hunden oder Kindern?  Missgönnen sie vielleicht dem Obdachlosen das Pfand? Jedenfalls brauchen die Berliner ihre Flaschen, zur Feier und zum Streit. Es scheint eine Art Berliner Ausdrucksmittel im Hohen und Tiefen zu sein. Streit auf der Straße? Das heißt: Schnauze! Schnauze! brüllen und deine Flasche zerplatzen lassen. Feier? Ohne Scherben war es nicht wirklich gut.

Die Berliner Bierflasche – interessante Folklore einer Großstadt.

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