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Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh - gut gelaunt in Istanbul.

© ULRICH ZAWATKA-GERLACH

SPD-Fraktionschef Raed Saleh in der Türkei: 150 Hass-Mails für einen Vortrag

Für drei Tage besuchte Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh Istanbul. Er wollte ein integrationspolitische Zeichen setzen - provozierte allerdings auch viel Widerspruch.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Er ist ein Süßschnabel, der Raed Saleh. Am Café Mustafa, schräg gegenüber der Blauen Moschee, dessen Baklava, Pistazienküchlein und Cremes unübertroffen sind, kommt er nicht vorbei. „Nächste Woche geh ich wieder ins Sportstudio“, sagt der Berliner SPD-Fraktionschef und grinst. Aber jetzt braucht er, bei schwarzem Tee und Zuckerkram, eine kurze Atempause. Nach dem Gespräch mit Jan Nöther, dem Geschäftsführer der Außenhandelskammer in Istanbul, draußen im noblen Stadtteil Tarabya, wo zu Kaisers Zeiten am Ufer des Bosporus die Sommerresidenz des deutschen Botschafters stand.

Um wieder ins Zentrum der türkischen Metropole mit ihren 14 Millionen Einwohnern zu kommen, benötigt man mit dem Auto eine Stunde -wenn der Verkehr staut, können es zwei Stunden werden. Es folgt ein Rundgang durch die Blaue Moschee, der Imam Ishak Bey lässt sich entschuldigen, anschließend fährt Saleh zur Friedrich-Ebert-Stiftung und abends erklärt ihm ein Funktionär der sozialdemokratischen Bruderpartei CHP bei Ziegenhirn, Tintenfisch und Raki, wie dringend reformbedürftig diese Partei ist.

Viele Einwanderer kehren inzwischen in die Türkei zurück

Am 1. November wird in der Türkei gewählt, zum zweiten Mal in diesem Jahr, und es stellt sich die Frage, warum ein deutscher Kommunalpolitiker ausgerechnet in einer so sensiblen Phase der türkischen Innenpolitik drei Tage an den Bosporus reist. Der Regierende Bürgermeister und Parteifreund Michael Müller hatte nichts dagegen. Immerhin ist Istanbul seit 1989 eine Partnerstadt Berlins. Aber die Beziehung der beiden Metropolen ist in die Jahre gekommen. Es fehlt der Esprit und da hilft es wenig, daran zu erinnern, dass die deutsche Hauptstadt noch immer die größte türkische Stadt im Ausland ist. Mit 173 000 Migranten, von denen 75 000 deutsche Staatsbürger sind. Viele kehren inzwischen in die Türkei zurück, ermutigt durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung ihres Herkunftslands. Und manche sind es müde, auch in vierter Generation noch als muslimisch geprägte Minderheit zu gelten.

„Ich will lernen“, sagt Raed Saleh auf die Frage, warum er nach Istanbul reist. Er lernt beispielsweise, dass dort momentan 330 000 registrierte Flüchtlinge zu versorgen sind. „Wir haben unsere Türen geöffnet, soweit wir es vermögen“, sagt Ebubekir Tasüyrek, Vize-Fraktionschef der Regierungspartei AKP im Istanbuler Stadtparlament. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, fügt er hinzu: „Wir haben auch keine andere Wahl.“ Der konservative Politiker empfängt, gemeinsam mit Vertretern der kommunalen Verwaltung, den Sozialdemokraten aus Berlin am Donnerstag im Rathaus. Er freue sich, sagt Tasüyrek, mit Saleh jemanden begrüßen zu dürfen, „der in einer Region geboren wurde, mit der wir uns sehr verbunden fühlen“.

Sein palästinensischer Hintergrund hilft ihm

Überall, wo Saleh in Istanbul auf einheimische Gastgeber trifft, hilft ihm seine Herkunft als Kind eines palästinensischen Gastarbeiters offenkundig, Kontakte zu knüpfen. Sein Name, der schwarze Schopf mit den braunen Kulleraugen – und dann ist er auch noch Muslim. In Berlin macht das Saleh nicht überall beliebt. Nach dem Vortrag an der Kültür Universitesi, in dem der SPD-Mann seine Idee eines europäischen Islams zur Diskussion stellt, hat er fast 150 Hass-Mails bekommen. Da steht beispielsweise, dass er kein Deutscher sei und dorthin gehen solle, wo er hingehöre. Bei der Veranstaltung hatte Saleh eine Vision für das Jahr 2030 entworfen: „Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Hariye Bayar, eine gläubige Muslima, trifft sich in Ankara mit dem Ministerpräsidenten der türkischen Republik, Herrn Adnan Saad, einem aus Syrien stammenden Christen.“

Saleh zuckt angesichts der hasserfüllten Reaktionen mit den Schultern. Er weiß, wo er zuhause ist. „Ich bin Spandauer, mit Leib und Seele“. In Hakenfelde ist er groß geworden, hat sich durch gebissen, den Aufstieg geschafft. „Ja klar, ich bin Muslim, aber nicht religiös, ich bin bekennender Sozialdemokrat.“ Er spricht zwar arabisch, kann aber die Schrift nicht lesen. Trotzdem lebt dieser Berliner, jetzt 38 Jahre alt, von Jugend an zwischen den Welten. Und so hat er beschlossen - nicht erst, seitdem er als Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus politische Karriere machte, diesen Zwiespalt und dessen Überwindung zu seinem Thema zu machen. Auch in Istanbul.

Er selbst hat einen Dialog der Religionen gegründet

Nicht weit vom Taksim-Platz, in einer ärmlichen Ecke des quirligen Beyoglu-Viertels, besucht Saleh die Evangelische Auslandsgemeinde, die mit 340 Mitgliedern „eine Minderheit in der Minderheit“ sei, sagt die Pfarrerin Ursula August, die dort seit 2010 seelsorgerisch tätig ist. Sie empfängt die Besucher im Gemeinderaum, in dem nur ein Tisch und ein paar Bücherregale Platz finden. In der oberen Etage ist die Kirche untergebracht, die über eine Treppe im verwunschenen Hinterhofgarten erreichbar ist. Mit weiß gekalktem Kirchenschiff, mächtigem Kreuz und farbigen Fenstern als einziger Schmuck. „Seit 1871 läuten wir hier die Glocken“, sagt die Pfarrerin, eine warmherzige, fröhliche Frau kurz vor dem Rentenalter. „Und bis heute hat sich niemand darüber beschwert.“

Trotz aller Probleme, die eine rechtlich nicht anerkannte christliche Minorität in einem islamisch geprägten Staat hat, läuft es offenbar gut mit dem „Dialog der Viertels“, den die Gemeinde begründet hat. „Wir werden überallhin eingeladen, unser Haus ist oft voll, der Bürgermeister des Stadtteils kam zu Besuch und wir feiern gemeinsam die Feste beider Religionen“, erzählt August. Es gebe sogar muslimische Familien, die ihre Kinder beschneiden und später konfirmieren ließen. Es gebe auch einen „interkulturellen Chor“. Seit einiger Zeit auch Suppenküchen für die syrischen Flüchtlinge, man hilft bei der Beschulung der Kinder. Sprachkurse werden organisiert, Gesundheitszentren aufgebaut. Die Hilfsbereitschaft auch der Moschee-Gemeinden, sei groß, lobt die Pfarrerin.

Dies sei, sagt Saleh später, für ihn das bewegendste Moment dieser Reise gewesen. Er selbst hat in Berlin vor zehn Jahren einen „Dialog der Religionen“ gegründet. Wohlwissend, dass es in seiner SPD nicht wenige Genossen gibt, die den Stellenwert der Religion im säkularen Berlin möglichst gegen Null drücken möchten. Aber man könne sie doch nicht ignorieren, die Christen, Muslime, Juden und andere gläubige Menschen, sagt er geradezu beschwörend. Für ihn sei es nur wichtig, dass religiöse und kulturelle Vielfalt nach Gemeinsamkeit suche. Nach einem friedvollen Konsens, einem Wertekanon, auf den sich alle einigen können.

Der Streit in Berlin um das Kopftuch muslimischer Frauen passt, so gesehen, nicht in die Philosophie des SPD-Fraktionschefs. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das Kopftuchverbot für öffentlich Bedienstete in einigen Bundesländern kippte, kann er gut leben. Dennoch vermeidet Saleh in Istanbul, so weit das möglich ist, vor Moscheen oder mit Frauen, die ein Kopftuch tragen, für Fotos zu posieren. Und am Schluss der Reise profiliert er sich noch einmal so richtig als aufmüpfiger Sozialdemokrat, der gegen die diplomatische Etikette der liberalen Zeitung Hürriyet einen Solidaritätsbesuch abstattet.

Am Ende setzt er sich für die Pressefreiheit ein

Deren Redaktion war in den vergangenen Wochen gewalttätigen Angriffen ausgesetzt, einer der Anführer ist ein Abgeordneter der Regierungspartei AKP. In der Verlagskantine, beim Essen mit leitenden Redakteurinnen der Hürriyet, spricht Saleh am Donnerstag von „Staatsversagen“. Das Grundrecht der Pressefreiheit sei nicht verhandelbar.

Was ihn nicht davon abhält, auf dem Weg zum Flughafen für seinen Sohn noch schnell ein blau-gelbes Trikot von Fenerbahce Istanbul zu kaufen. Mitglied des Fußballclubs ist der türkische Staatspräsident Recep Erdogan. Man darf die wichtigen Dinge des Lebens eben nicht nur politisch sehen.

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