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Großprojekte: Lichtenrader Bürger fürchten um ihre Idylle

BBI, Straße, Bahn und Einkaufszentrum: Lange galt Lichtenrade als Ort der Glückseligen. Nun provozieren vier Bauvorhaben Widerstand.

Die Großstadt war in Lichtenrade bislang weit weg, auch wenn die Fahrt mit der S-Bahn vom Potsdamer Platz nur 20 Minuten dauert. Vor der Wende endeten die Züge hier, und wenn sich, was selten vorkam, Touristen in den Ort verirrten, konnte Jutta Wittenbecher in ihrem an den Bahnhof grenzenden Garten hören, was aus ihnen herausplatzte: „Das ist ja der Arsch der Welt hier!“

Wer heute in Lichtenrade aus der S-Bahn steigt, sieht zuerst die Zettel, die zur „Montagsdemonstration“ gegen Fluglärm aufrufen. Die Routen des künftigen Flughafens BBI haben die Menschen aufgeschreckt, sie fürchten um ihr Idyll am Südrand der Stadt. Das Idyll ist aber nicht nur aus der Luft bedroht. Seit Januar wird die B96 am Kirchhainer Damm vierspurig ausgebaut, drei Jahre sollen die Arbeiten dauern. Seit Jahren schwelt der Streit um die Dresdner Bahn, die, wenn sie wie von der Bahn geplant gebaut würde, den Ort mit Trasse und Lärmschutzwänden regelrecht zersägen würde, wie viele befürchten. Und jetzt gibt es auch noch Ärger um ein Einkaufszentrum, das der Investor Harald Huth bauen will.

„Wie mit uns umgegangen wird, ist eine Unverschämtheit“, sagt Jutta Wittenbecher. Die 70-Jährige steht vor ihrem Haus an der Steinstraße und sagt, sie sei stocksauer. Der Grund für ihren Ärger sind die Pläne, die Huth auf seiner Firmenhomepage veröffentlicht hat. Sie zeigen das Gelände rund um die alte Mälzerei, zwischen S-Bahnhof und Steinstraße, auf dem auch Jutta Wittenbechers Haus liegt. Was man auf den Plänen nicht mehr erkennt, ist ihr Haus. Huth, der die Gropiuspassagen und das Schloss in Steglitz baute, will auf dem Areal ein Einkaufszentrum bauen, mit 9000 Quadratmetern Verkaufsfläche und 300 kostenlosen Parkplätzen. Die Eröffnung kündigt er auf der Homepage für Sommer 2012 an.

„So schnell geht das nicht“, sagt Baustadtrat Bernd Krömer (CDU), der das Projekt prinzipiell befürwortet. 18 Monate könne es dauern bis zur Planreife, denn wichtige Fragen seien zu klären. Vor allem die, wie viel Verkaufsfläche der Ort vertragen kann, ohne die Geschäfte an der Bahnhofsstraße zu gefährden; ein Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung sehe für das Areal nur 4000 Quadratmeter Verkaufsfläche vor; auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung halte das geplante Einkaufszentrums für zu groß, sagt Krömer. Das müsste man mit dem Investor abstimmen. Ihm sei vor allem wichtig, dass die alte Mälzerei belebt werde, sagt Krömer.

Das kann auch Georg Wagener-Lohse unterschreiben. „Wir brauchen ein Zentrum am Bahnhof“, sagt der Ingenieur, der sich in der „Ökumenischen Umweltgruppe Lichtenrade“ engagiert. „Aber 9000 Quadratmeter Verkaufsfläche sind zu viel.“ Die Gruppe hat ein Konzept formuliert, sie wollen kleine, hochwertige Geschäfte, Gastronomie, kulturelle Angebote. Man wolle Huth für eine Bürgerwerkstatt gewinnen, sagt Wagener-Lohse, aber auf einen Brief habe dieser bisher nicht reagiert.

Auch die Frage, was mit dem Haus passieren soll, in dem Jutta Wittenbecher seit 30 Jahren lebt, wird zu klären sein. Sie habe lebenslanges Wohnrecht, per Testament besiegelt, und daran ändere auch die Tatsache nichts, dass das Grundstück an Huth verkauft wurde, sagt sie. „Ich geh hier nicht raus“, sagt sie, „und wenn ich den Parkplatz direkt vor die Tür bekomme.“ Aber die Stimmung im Ort sei gespannt, sagt sie, einige hätten Angst: die Mieter im Wohnblock nebenan, die laut Krömer von Huth „umgesetzt“ werden müssten, und manche Ladenbesitzer auf der Bahnhofstraße.

„Ein Einkaufszentrum brauchen wir so dringend wie einen Kropf“, sagt Paul von der Nüll. Aber Angst vor Konkurrenz habe er nicht, sagt der Inhaber der Lichtenrader Bücherstube: „Ich glaube, dass die Leute dann erst recht bei mir einkaufen.“ Überhaupt sieht der 66-Jährige den Großprojekten gelassen entgegen. Die Dresdner Bahn? „Ach was“, schnaubt er, an die glaube er erst, wenn gebaut werde.

Das wird nicht so bald der Fall sein. Das Eisenbahnbundesamt, das seit 1997 an der Planung arbeitet, teilt mit, man könne keine zeitliche Perspektive geben, wann der Planfeststellungsbeschluss zu erwarten sei. Und wenn es so weit sein sollte: „Wir haben genug Geld für die Klage“, sagt Manfred Beck von der Bürgerinitiative Dresdner Bahn. Seit Jahren kämpfen der 73-Jährige und seine Mitstreiter für eine Tunnellösung, und sollte die Bahn die oberirdische Lösung beschließen, werden sie vor Gericht gehen. „Die Bahn würde den Ort kaputt machen“, sagt auch Baustadtrat Krömer.

Ein anderes Verkehrsprojekt wird bereits umgesetzt: der vierspurige Ausbau des Kirchhainer Damms. Bisher ist die B96 dort ein Nadelöhr: vierspurig in Brandenburg, zweispurig in Lichtenrade. Dass die Engstelle behoben werden muss, bestreitet kaum jemand. Dass eine Straße, die zu 95 Prozent vom Durchgangsverkehr genutzt wird, aber nach dem Straßenausbaubeitragsgesetz zu 25 Prozent von den Anliegern mitfinanziert werden soll – das hat Ärger ausgelöst unter den etwa 260 Eigentümern an der Straße. Inzwischen rechnet der Grundeigentümerverein mit Kosten von wenigen tausend Euro pro Eigentümer, der Ärger ist verraucht. Georg Wagener-Lohse, der am Kirchhainer Damm zur Miete wohnt und keine Kosten übernehmen muss, sieht ein, dass es gute Gründe für den Ausbau der B96 gibt. Er stellt aber eine grundsätzliche Frage. „Jeder weiß, dass wir in Zukunft weniger Autoverkehr haben müssen“, sagt er. „Ist es dann sinnvoll, Millionen für den Straßenbau auszugeben?“ Barbara Kerbel

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