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Oscar Niemeyer und die Stalinallee: Auf Stelzen in die Keramik

Oscar Niemeyer baute im Hansaviertel, Hermann Henselmann die Stalinallee. Während ihre Bauten in Berlin so zu Kampfansagen konkurrierender Blöcke wurden, waren sich die beiden Architekten durchaus zugetan.

Zwei Männer schlendern durch Berlin. Im Osten bewundern sie die monumentale Wucht der Karl-Marx-Allee, im Westen ein hochgebocktes Betonschiff am Rande des Tiergartens. Die beiden Herren stützen sich an der Reling der Zugangsrampe ab, deuten auf die Punkte des monolithischen Aufzugsturms. Oscar, du hast die Kurve raus, könnte der Pfeifenraucher sagen. Nicht doch, Hermann, der andere grinsend entgegnen. Deine Stalinallee gehört zu den gelungensten Avenuen Europas.

So war es nicht, so wird es nicht mehr geschehen. Denn die beiden befreundeten Architekten sind tot. Hermann Henselmann starb bereits 1995, Oscar Niemeyer am 5. Dezember, zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag. In Berlin steht das einzige seiner Gebäude, das in Deutschland errichtet wurde. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1957 entwarf er ein Scheibenhochhaus im Hansaviertel. Seine prägnantesten Merkmale hat Niemeyer sich bei der Marseiller „Wohnmaschine“ seines Lehrmeisters Le Corbusier ausgeliehen: Das Gebäude ruht auf V-Stützen, im fünften Stockwerk ist das Fensterband durchgezogen. Hier plante Niemeyer eine komplette Gemeinschaftsetage. Über die dann doch eingebauten Wohnungen war er sehr ungehalten. Obwohl der Architekt am Ende nicht zufrieden war, ist Niemeyers Interbau-Beitrag heute denkmalgeschützt. Die Wohnblocks in der ehemaligen Stalin- und heutigen Karl-Marx-Allee, für die Henselmann wesentlich verantwortlich ist, sind mit 1,7 Kilometern sogar das längste Baudenkmal Europas.

In beiden Vierteln leben bis heute viele der ersten Mieter. Das spricht für die Qualität der Wohnungen. Die Bewohner des Hansaviertels, zu denen auch die Autorin zählt, schwärmen von der idealen Raumaufteilung im „Niemeyer“, von der Helligkeit, dem weiten Blick nach Ost und West, den vielen, charmanten Details wie die geschwungene Trennwand mit Einbauelementen oder den Bullaugenfenstern. Die Lage im Park ist ein weiteres Plus des Hauses. Das Grün auf der Karl-Marx-Allee dagegen verschwindet im neunzig Meter breiten Asphalt. Zum Einkaufen fahren die Bewohner manchmal lieber zum Alexanderplatz. Das ist weniger anstrengend als der Weg zum Bäcker auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Menschen werden zu Ameisen auf der Karl-Marx-Allee – doch auch diese Monumentalität ist offenbar reizvoll. Das Viertel ist beliebt.

Mehr als nur Wohnraum

Als das Hansaviertel und die Stalinallee errichtet wurden, standen sie indes für viel mehr als nur Wohnraum. Es ging ums Ganze. Welcher Staat ist der bessere? Die frisch gegründete DDR und der Westen bauten um die Wette. Niemeyer und weitere international anerkannte Architekten sollten 1957 – die sozialistisch-realistischen Prachtbauten der Stalinallee standen da schon einige Jahre – beweisen, dass der Westteil Berlins wieder Anschluss an die Welt gefunden hatte. Von ihren Auftraggebern wurden die Karl-Marx-Allee und das neue Hansaviertel schon bei der Geburt auf Krawall gebürstet.

Niemeyer und Henselmann aber scherten sich nicht darum. Sie lobten gegenseitig ihre Entwürfe. Henselmann ging noch weiter. Er versuchte über seinen Freund Niemeyer, die Ästhetik der Moderne in die DDR einzuschleusen. Niemeyer taugte zum Vorbild in der DDR: Der Brasilianer besaß ein kommunistisches Parteibuch. Mit dem Anfang der sechziger Jahre errichteten „Haus der Lehrers“ am Alexanderplatz grüßt Henselmann deutlich Niemeyers Parlamentsbauten in Brasília. Auch Niemeyers Präsidentenkapelle ist in Henselmanns nicht realisiertem Vorschlag für eine Lenin-Bibliothek am Platz der Vereinten Nationen zu erkennen: Das skulpturale Gebäude ähnelt von oben einem schlafenden Fuchs, der seinen buschigen Schwanz um sich geschlungen hat.

Irene Henselmann sagt, ihr Mann habe nie begeistert über seine eigenen Entwürfe für die Stalinallee gesprochen. „Um später moderner bauen zu können, ging mein Mann den Kompromiss ein und zitierte in seinen Entwürfen Schinkel.“ In ihrer Privatwohnung im „Haus des Kindes“ gründeten die Henselmanns gar einen „Ost-West-Salon“. Es kamen viele Leute, besonders natürlich Architekten, auch Baumeister aus dem Westteil der Stadt. "Obwohl es in den Zeiten des Kalten Krieges beiden Seiten verboten war, miteinander zu verkehren.“ Gut vorstellbar, dass auch Oscar Niemeyer hier an einem Zigarillo zog.

„Wir wollten eine Welt ohne Grenzen; eine offene Welt, offen für den Austausch der Gedanken und der Waren. Das Uno- Gebäude und Brasília waren Ausdruck dieser Welt. Diese Welt glaubt heute an den Neoliberalismus …“ Oscar Niemeyer bezeichnete sich bis zuletzt als Kommunisten, was ihn nicht daran hinderte, Gebäude für große Unternehmen zu planen. Dabei werfen ihm Kritiker bis heute „mangelnde Funktionalität“ vor. Auch auf das Hansaviertel insgesamt schimpfen manche: Es sei ein „spektakulärer Sonderfall für Architekturtouristen“, schreibt der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann. Die „Verschwendung öffentlicher Mittel“ sei demonstrativ gewesen. Und doch funktioniert das Viertel heute als Dorf in der Stadt: Am Hansaplatz brennt in den kalten Tagen Mitte Dezember ein Lagerfeuer. Auf dem Ökomarkt wärmen sich die Händler die Finger daran. Die gegenüberliegende Pizzeria gewährt geblitzten Autofahrern Rabatt.

Die ehemalige Stalinallee wird derweil bis heute als „stalinistischer Kitsch“ geschmäht. Und wirklich: Opulente Kandelaber, die Ornamente, vor- und zurückspringende Simse, Sockelgeschosse und Keramikplatten – eher „schrecklich schön“ erscheint all das. Junge Westdeutsche, die hier einziehen, sind zugleich fasziniert und abgestoßen von den Geschichten in den Ritzen der Häuser. Es sind eilige, junge Männer und Frauen mit großen Brillengläsern, die hier wohnen, aber nicht leben. Vom sozialistischen Wohntraum ist vor allem die Kulisse geblieben.

Und doch: Gemeinsam mit dem Hansaviertel will die Allee nun Weltkulturerbe werden – im Juli schlug der Senat beide Komplexe für die Welterbeliste der Unesco vor. Ob Niemeyer und Henselmann sich darüber gefreut hätten? Fragen kann man die Freunde nicht mehr. Die Bedeutung ihrer Bauten aber scheint, gerade in ihrem Zusammenspiel, größer, als viele neue Bewohner es vielleicht ahnen.

Maike Wetzel

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