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Totenritual: Hanneriina Moisseinen zeichnete die Geschichte um ihren verschwundenen Vater nicht nur, sie arbeitet auch mit Stoffelementen.

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Neue Comics aus Finnland: Eiskalt erwischt

Eine neue Generation finnischer Comicautoren beeindruckt mit intensiven Erzählungen, von denen einige jetzt zur Leipziger Buchmesse auf Deutsch erscheinen. Ein Besuch in Helsinki.

Eines Tages war er einfach weg. An einem Samstagmorgen vor 25 Jahren fuhr der Computeringenieur Seppo Johannes Moisseinen zu einer Fortbildung auf einer kleinen Insel im Osten Finnlands - und kehrte nie wieder zurück. Mit den Kollegen, so viel ist bezeugt, verbrachte er noch einen Abend am Lagerfeuer am Wasser. Dann verschwand er. Ober er sich im Dunkeln verlief und ins Moor geriet? Ob er im Mondschein schwimmen gehen wollte und ertrank? Das wird Hanneriina Moisseinen wohl nie erfahren, von ihrem Vater wurde bis heute kein Leichnam gefunden. Als er verschwand, war sie zehn.

Eine reichhaltige Comicszene jenseits der "Mumins"

"Ich hatte viele Jahre lang ein schwarzes Loch in mir", erzählt die Künstlerin beim Gespräch in einem bunten Arbeitszimmer des "Finnish Comics Center" am Rand der Innenstadt von Helsinki. Der mit staatlicher Unterstützung betriebene Szenetreffpunkt mit Bibliothek und Ausstellungsräumen liegt gleich gegenüber der Kunsthochschule im ehemaligen Arbeiterviertel Arabia. Vor Hanneriina Moisseinen liegt ihr Buch "Isä - Father". Auf dem grauen Titelbild des 150-Seiten Werks hat die 35-Jährige sich selbst als kleines Mädchen gezeichnet, wie sie ein Motorboot lenkt, neben ihr der geliebte Vater. "Isä" ist eine der schönsten, traurigsten Bilderzählungen der vergangenen Jahre - und eines von vielen Beispielen dafür, dass in diesem bei Comiclesern lange nur für die "Mumins" bekannten Land in den vergangenen Jahren einige große Talente der kunstvollen Comicerzählung herangewachsen sind.

Vielfältig: Der Comic-Atlas gibt einen guten ersten Überblick über die finnische Szene.
Vielfältig: Der Comic-Atlas gibt einen guten ersten Überblick über die finnische Szene.

© Reprodukt

In diesem Jahr gibt es zahlreiche Möglichkeiten, das auch in Deutschland zu erleben. Mehrere Comicbücher finnischer Autoren erscheinen auf Deutsch. Mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse im Herbst, auf der Finnland Ehrengast ist, wurden zahlreiche Übersetzungen gefördert. Aber auch auf der Leipziger Buchmesse kann man ab diesem Donnerstag bereits einiges erleben. Im Zentrum stehen dort der "Comic Atlas Finnland", in dem sich ein Auszug aus Hanneriina Moisseinens Geschichte findet, sowie das akribisch recherchierte Flüchtlingsdrama "Unsichtbare Hände" des in Helsinki lebenden Autors Ville Tietäväinen.

"Da war endlich wieder Raum für Neues"

Mit ihrem Buch nimmt Hanneriina Moisseinen nachträglich Abschied, wie die Künstlerin mit den großen, ernsten Augen erzählt. Nachdem der Vater verschwand, klammerten sie und ihre Mutter sich lange an die Hoffnung, dass man eines Tages erfahre, was ihm passiert ist. Dann verdrängte sie den Gedanken an ihn zunehmend. "Ich konnte mich lange nicht mehr an meinen Vater erinnern, er war nur noch ein Geist für mich." Vor einigen Jahren beschlossen sie und ihre Mutter, sich dem Thema zu stellen. Die Mutter schrieb eine wissenschaftliche Arbeit über die Traumata der Angehörigen von Verschwundenen. Die Tochter interviewte Verwandte, Freunde und Kollegen des Vaters und schrieb und zeichnete und nähte daraus eine Comicerzählung.

Nähte? Ja, wichtige Teile von "Isä", das auf Finnisch mit englischen Untertiteln veröffentlicht wurde, bestehen aus Näh- und Stickarbeiten mit Naturmotiven, Porträts des Vaters und Szenen aus dem Leben der Tochter, die die Künstlerin auf Stoffe mit geklöppelten Spitzen aufgetragen hat. Moisseinen stammt aus Karelien, einer Region im Osten des Landes, die heute teils zu Finnland und teils zu Russland gehört. Sie ist Mitglied der russisch-orthodoxen Kirche. "Diese Stoffe sind Kaspaikka", sagt sie. Also Tücher, die in ihrer Region für heilige Zeremonien wie Begräbnisse benutzt werden.

Die hängt man 40 Tage nach dem Begräbnis an Zäune und Bäume auf dem Weg vom Friedhof zum Haus der Familie, erklärt sie. "Dadurch wird die Seele eingeladen, das Haus ein letztes Mal zu besuchen, um dann zurück ins Grab zu kehren." So habe sie ihr eigenes Ritual geschaffen, um ihren Vater zu verabschieden.

"Nachdem ich mit dem Buch fertig war, fühlte ich mich befreit", sagt sie. "Da war endlich wieder Raum für Neues." Derzeit arbeitet sie mit Musikern und Tänzern an einem Comic-Konzert, bei dem ihre Bilder auf der Bühne umgesetzt werden.

Das Schöne und das Schmerzhafte liegen bei finnischen Comics eng beieinander, das zeigen auch andere Beiträge im "Comic Atlas". Eine lieblich anzuschauende Mittsommernachtsgeschichte der Zeichnerin Reeta Niemensievu, aus der es in der Anthologie einen Auszug gibt und aus der auch das große Bild in diesem Artikel stammt, entpuppt sich da bei genauerer Lektüre als Drama um einen tödlich endenden Gottesdienst. In der Geschichte "The Trophy Hunters" erzählt Jaakko Pallasvuos mit verwischtem Strich eine subtile Familientragödie zwischen Traum und Wirklichkeit, Hoffnungen und Enttäuschungen. Und die Zeichnerin Amanda Vähämäki erzählt in der magisch-realistischen Geschichte "Muttertag" von zwei jungen Menschen, die dem tristen Kleinstadtleben per Zeitreise zu entkommen versuchen.

Überlebenskampf eines Flüchtlings in Europa

Eine der stärksten lange Comicerzählungen, die in diesem Jahr auf Deutsch erscheint, kommt allerdings von einem Finnen, der in dem Atlas fehlt: In seiner Graphic Novel "Unsichtbare Hände" schildert der Comicautor Ville Tietäväinen die qualvolle Odyssee eines nordafrikanischen Flüchtlings in die Europäische Union. Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, erzählt Tietäväinen beim Gespräch in seinem Atelier im angesagten Viertel Kallio unweit der Innenstadt von Helsinki.

Mit dem Sozialanthropologen Marko Juntunen recherchierte er dafür monatelang in Nordafrika und Südspanien. "Es war ein großer Schock zu sehen, wie es Menschen ergeht, die offiziell gar nicht in Europa sein dürfen", sagt der 43-Jährige. Gemeinsam verfassten sie Artikel für finnische Zeitungen über das Leid der Flüchtlinge, dann setzte Tietäväinen das Erlebte in eine Erzählung um.

Die fiktive, aber auf Fakten beruhende Geschichte des marokkanischen Familienvaters Rashid ist geprägt von weitgehend realistisch gezeichneten Bilderstrecken, die durch die Verbindung von Aquarell, Ölpastell und Computernachbearbeitung einen ganz eigenen, düsteren Look haben. Das passt zu der dramatischen Handlung, die den Überlebenskampf der Flüchtlinge ausführlich ergründet. "Ich wollte keine Dokumentation abliefern, sondern so viele Informationen wie möglich in einem Drama unterbringen", sagt der Zeichner. Das beginnt mit der Schilderung der sozialen und wirtschaftlichen Nöte, die Nordafrikaner wie die Hauptfigur zur Flucht treiben.

Donald Duck zum Geld verdienen

In bildgewaltigen Panels und realistischen Dialogen werden die Schrecken der nur knapp überlebten Reise übers Meer und vor allem das sich anschließende Leid in Südspanien geschildert. Denn statt im erhofften Paradies landet die zuvor in Marokko arbeitslos gewordene Hauptfigur, wie zahllose andere Flüchtlinge, in einem neuen Leben, das von Gewalt und Ausbeutung der mittel- und rechtlosen Flüchtlinge geprägt ist.

Das Buch wurde in Finnland von der Kritik gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet, an Tietäväinens Atelierwand hängen einige davon. So erhielt er 2011 mit dem Finnish Cultural Foundation Award den bedeutendsten Kulturpreis seines Landes. Die Arbeit an der Graphic Novel dauerte fünf Jahre und wurde ermöglicht durch ein Stipendium des Finnischen Kulturrats, wie er erzählt. Diese Woche präsentiert er das Buch in Leipzig, im Mai gastiert er als Stipendiat des Literarischen Colloquiums in Berlin.

Odyssee: Eine Szene aus Ville Tietäväinens Graphic Novel "Unsichtbare Hände".
Odyssee: Eine Szene aus Ville Tietäväinens Graphic Novel "Unsichtbare Hände".

© Avant

Zuvor hat Tietäväinen aber noch eine kommerzielle Auftragsarbeit zu beenden, die halb fertig auf seinem Zeichentisch liegt: eine Donald-Duck-Geschichte für die Zeitschrift "Akku Anka", wie der Disney-Enterich auf Finnisch heißt. Denn auch wenn die finnische Independent-Comicszene beeindruckend vital, originell und produktiv ist - zum Leben reicht die Arbeit an eigenen Werken auch hier trotz großzügiger Förderprogramme bei den meisten Künstlern nicht.

Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände, Avant-Verlag, Übersetzung ins Deutsche: Alexandra Stang, Lettering: Tinet Elmgren, 216 Seiten, 34,95 Euro.
Hanneriina Moisseinen: Isä - Father, Huudahuuda-Verlag (www.huudahuuda.com), 150 Seiten, Finnisch mit englischen Übersetzungen, 25 Euro.
Kalle Hakkola, Sascha Hommer (Hg.) Comic Atlas Finnland, mit Beiträgen von zwölf Zeichnern, aus dem Finnischen von Elina Kritzokat, Reprodukt, 240 Seiten, 34 Euro.

Veranstaltungshinweis: Auf der Leipziger Buchmesse gibt es bis Sonntag zahlreiche Veranstaltungen mit Comicautoren, darunter mehrere aus Finnland. Einen umfangreichen Überblick über die Veranstaltungen gibt es unter anderem bei graphic-novel.info.

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