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Als „Multiversum“ empfand Luigi Nono sein Venedig. Weil man hier immer mehr hört als sieht. Blick auf die Giudecca, die dem Stadtzentrum vorgelagerte Insel, auf der Nono von 1955 bis zu seinem Tod 1990 lebte. Foto: Imago

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Berliner Festspiele: Musik schenkt eine neue Weltanschauung

Das Musikfest Berlin wagt sich an Luigi Nonos „Prometeo“, eines der großen Rätselwerke des 20. Jahrhunderts. Am besten nähert man sich der „Tragödie des Hörens“ am Ort des Entstehens: auf der Giudecca-Insel in Venedig

Die Touristen, die am Bahnhof das Vaporetto bestiegen haben, sind enttäuscht. Da stand doch „San Marco“ dran! Jetzt aber fährt das Schiff der Linie 2 gar nicht den Canal Grande hinunter, sondern biegt ab in Richtung Überseehafen, wo die schwimmenden Bettenburgen der Kreuzfahrtschiffe die historischen Häuser ums Doppelte überragen. Wer den Weg außen herum bewusst gewählt hat, freut sich, weil sich der Blick aufs Meer öffnet, weit hinaus in die Lagune. Dann schiebt sich die Giudecca ins Bild, die dem Stadtzentrum südlich vorgelagerte Insel. Das Schiff steuert zunächst die Station Sacca Fisola an, dann den wuchtigen Bau der Molino Stucky, der früheren Getreidemühle, lange ein Schandfleck der venezianischen Vedute, nach Jahrzehnten des Leerstands zum Hotel umgewandelt.

Wer beim nächsten Halt aussteigt, „Palanca!“, die Uferpromenade hinuntergeht, durch einen schmalen Torbogen abbiegt, in der Calle del Pistor ein paar quer über die Gasse gespannte Wäscheleinen passiert, kommt zur hohen Mauer des einstigen Klosters „Santi Cosma e Damiano“. Hier, in einem lichten Saal, den schlanke Säulen tragen, wird der Nachlass von Luigi Nono aufbewahrt, dem bedeutendsten italienischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, ja einem der prägenden Musikschöpfer der Moderne überhaupt. Seit den fünfziger Jahren hatte Nono mit dezidiert politischer Musik Furore gemacht, war zusammen mit seinen Freunden, dem Dirigenten Claudio Abbado und dem Pianisten Maurizio Pollini in Fabriken aufgetreten, um die Arbeiter aufzurütteln. „Der Kampf gegen Faschismus und Imperialismus ist mein Lebensinhalt“, erklärte er. „Ich bin nur zufällig Musiker.“

Als das Ende der Utopien dämmerte, verstummte der Komponist für einige Zeit, um schließlich 1980 ein Streichquartett vorzulegen, das Fans wie Feinde gleichermaßen verwirrte. Statt Agitprop, statt greller Dissonanz erklangen hier plötzlich Töne an der Grenze zum Verstummen.

Im zartesten Pianissimo bewegt sich über weite Strecken auch Nonos opus magnum „Prometeo“ von 1985, ein Stück, dessen enormer personeller und technischer Aufwand – die Klänge von vier Orchestergruppen, Gesangs- und Instrumentalsolisten sowie Sprecher und Chor wandern mithilfe von Live-Elektronik durch den Raum – in scheinbar größter Diskrepanz zum fragilen, körperlosen Klangeindruck steht. Ein gigantisches, ein rätselhaftes Werk, bis heute. Je schneller unsere Alltagswelt rotiert, desto schwerer wird es, die Stille auszuhalten. Desto kostbarer wird sie.

Gerade haben die Salzburger Festspiele den „Prometeo“ gestemmt, am Freitag und Sonnabend wird das Werk beim „Musikfest Berlin“ zu erleben sein, im Kammermusiksaal, wie bei der deutschen Erstaufführung 1988, die der Komponist noch selber betreut hatte, zwei Jahre vor seinem Tod.

So komplex diese zweieinhalbstündige „Tragödie des Hörens“ auch sein mag, mit seiner extrem prätentiösen Textauswahl von Aischylos über Hölderlin bis Walter Benjamin, die Nonos Philosophenfreund, der langjährige Bürgermeister Venedigs, Massimo Cacciari, zusammengestellt hat: Am besten nähert man sich dem „Prometeo“ nicht über den Kopf, sondern vor Ort, per pedes und Vaporetto, auf der Giudecca.

Lesen Sie weiter und erfahren Sie, wie sich Luigi Nono von Venedig und der Inselgruppe Giudecca verzaubern ließ.

Als Luigi Nono 1955 hierher zog, frisch verheiratet mit Nuria, der Tochter Arnold Schönbergs, war die Insel ein Arbeiterviertel. Seit 1952 gehörte der Komponist der Kommunistischen Partei Italiens an. Doch nicht der Wunsch nach Tuchfühlung mit dem Proletariat gab den Ausschlag für die Ortswahl, sondern das Vitamin B der Mamma. Die Signora nämlich kannte die Besitzer einer jener Villen am Südufer, die sich der venezianische Adel auf der Giudecca einst als Sommerresidenz hatte bauen lassen, bevor der Lido in Mode kam.

Hier konnte das Paar eine Etage beziehen, alle Zimmer mit Meerblick! Nuria Schönberg Nono, eine hellwache Endsiebzigerin von zeitloser Schönheit, kommt sofort ins Schwärmen, wenn sie an ihre ersten Jahre in Venedig denkt: „Ich war ja komplett amerikanisch geprägt, kam direkt vom College und hatte keinen Schimmer von der italienischen Kultur. Gigi ist dann mit mir durchs ganze Land gefahren, hat mir alle Kunstschätze gezeigt.“

Das Domizil der Nonos entwickelt sich schnell zum Avantgardetreffpunkt. Wenn parallel zur Biennale das Festival für zeitgenössische Musik stattfindet, bekocht Nuria ganze Ensembles. Überhaupt ist die Rollenverteilung traditionell: Sie kümmert sich um die beiden Töchter und den Haushalt, er lauscht hinein in die Stadt. Anders als die Besucher von außerhalb, die Venedig vor allem als perfekte Kulisse wahrnehmen, liebt Luigi Nono seine Heimat als einzigartigen Klangraum. Für Nono ist Venedig ein „Multiversum“, dessen Vieldimensionalität sich allein mit den Ohren erfassen lässt.

Man kann es überall in der Stadt selber ausprobieren. Einfach mal innehalten und lauschen: Möwen lachen, eine Sirene ertönt, irgendwo erklingt ein Akkordeon, Baulärm dringt aus unbestimmter Richtung herüber. Das babylonische Stimmengewirr der Touristen wird für einen Moment vom Rollladen eines Geschäfts unterbrochen, der metallisch herunterrasselt. Mit Nerven zerfetzendem Quietschen schabt ein Vaporetto beim Anlegemanöver an der Landungsbrücke entlang.

Hier, wo kein Autoverkehr rauscht, sondern nur das Wasser, kann man das Hören neu lernen. Denn die meisten Geräuschquellen bleiben unsichtbar. Irritierend für Menschen, die es sich angewöhnt haben, mit den Augen zu hören. Optik ist alles, das Sehen der immer und überall dominierende Sinn im Dauerfeuer der Reizüberflutung. Der Soundtrack läuft irgendwo im Hintergrund.

Luigi Nono dagegen nimmt die Magie seiner Stadt über die Töne wahr. Der Wellenschlag und sein Widerhall von den Mauern lassen ihn aufhorchen. Ja sogar die unzähligen Kirchen Venedigs schlagen den Atheisten in ihren Bann: „In mein Heim auf der Giudecca dringen fortwährend Klänge verschiedener Glocken. Sie kommen mit unterschiedlicher Resonanz, Tag und Nacht, durch den Nebel und in der Sonne. Es sind Lebenszeichen über der Lagune. Aufforderungen zur Arbeit, zum Nachdenken, Warnungen.“

Das einzige Wort, das der Hörer des „Prometeo“ wirklich versteht, fällt gleich zu Beginn. „Ascolta!“ ruft der Chor, „Hört zu!“ Darum geht es in diesem entschleunigten, handlungslosen Stück: die eingeübten Analysemechanismen des Hochkulturkonsums abzuschalten, gesungene Töne nicht automatisch als Bedeutungsträger wahrzunehmen, um vorbehaltlos eintauchen zu können in das Klanguniversum, das Nono seinem Publikum mithilfe der Live-Elektronik aufschließt. Auf den fünf „Inseln“, die das Archipel des „Prometeo“ bilden, bewegt sich der Hörer oft orientierungslos – so wie der Städtereisende in den Gassen Venedigs. Verwirrt, weil ihm der Überblick fehlt, die Sichtachsen.

Auch der späte, politisch desillusionierte Luigi Nono fühlte sich ziellos. Weil für ihn aber das Voranschreiten die einzige mögliche Bewegungsform war, verlegte er sich aufs Suchen, aufs Tasten im unbekannten Terrain der leisen und leisesten Töne. Hier eröffnete sich ein neuer, anderer Weg der Sensibilisierung seines Gegenübers. Anstrengender womöglich als jener der Politparolen.

Wer sich im Archivio von Signora Nono einige der 37 Kartons mit den Entwürfen zum „Prometeo“ zeigen lässt, kann die mühevolle Genese nachvollziehen. Mit Filzstiften in allen nur erdenklichen Farben beackert der Komponist die Textlandschaft Cacciaris, immer wieder, auf Hunderten Seiten. Kunterbunt arbeitet er auch auf dem extragroßen Notenpapier weiter. Entschieden die Durchstreichungen, dazwischen die Ermahnung an sich selber: fare meglio – besser machen! Parallel ist der Betrachter immer versucht, sich von der grafischen Schönheit dieser Skizzen über die schweren inneren Kämpfe des kreativen Prozesses hinwegtäuschen zu lassen.

Von dem Physiker Werner Heisenberg ist ein Satz überliefert, der ziemlich gut beschreibt, was Luigi Nono bei diesem letzten, großen Werk antrieb: „Auch das lauteste Getöse großer Ideale darf uns nicht verwirren und nicht hindern, den einen leisen Ton zu hören, auf den alles ankommt.“

Kammermusiksaal der Philharmonie, 16./17. September, jeweils um 20 Uhr, weitere Informationen unter http://www.berlinerfestspiele.de

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